Wie gefährlich ist Pikrinsäure?
Der Stoff steht seit langem in Schulen und Apotheken. Und plötzlich soll ein Sprengkommando ihn beseitigen.
Düsseldorf/Wuppertal. Die Tatortgruppe Sprengstoff/Brand des Landeskriminalamts (LKA) Düsseldorf hat momentan alle Hände voll zu tun: Sie fährt von Schule zu Schule und sprengt kontrolliert eingetrocknete Pikrinsäure. Mittlerweile rufen auch viele Apotheken nach dem LKA. In ihren Labors standen Flaschen mit Pikrin schon jahrelang, ohne dass etwas passiert ist.
Dass die Säure plötzlich in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist, erklärt Frank Scheulen, Pressesprecher beim LKA, mit einem "Dominoeffekt". "Erst wurde Pikrinsäure im angetrockneten Zustand in Berlin entdeckt, dann an einer Schule in Dortmund gesprengt", sagt er. "Plötzlich war das Thema auf der Tagesordnung der Medien, und viele Schulen und Apotheken begannen damit, ihre Bestände zu kontrollieren."
Offenbar war man sich der Gefahr nicht bewusst. Denn grundsätzlich ist Pikrinsäure gefährlich, ihre Sprengkraft vergleichbar mit der von TNT. Das LKA in Düsseldorf verweist auf die Katastrophe 1917 in der kanadischen Stadt Halifax. Damals geriet ein Frachter mit 2300 Tonnen Pikrinsäure an Bord in Brand und explodierte. Mehr als 1600 Menschen starben.
In den Schulen indes werden nur wenige Gramm der Substanz gelagert, erklärt Egon Petrak, Chemiker und bei der Düsseldorfer Bezirksregierung für den Umgang mit Gefahrstoffen zuständig: "Das ist sehr, sehr wenig." Zudem werde die Säure in Wasser verdünnt aufbewahrt. In diesem Zustand sei sie vollkommen unkritisch. Nur wenn der Inhalt der kleinen Fläschchen trocknet, kann die übriggebliebene Kruste explosiv sein. "Man muss den Stoff allerdings aktivieren, zum Beispiel, indem man mit dem Hammer drauf schlägt", erklärt Petrak. Die Pikrinsäure wird also nicht im Schrank hochgehen. Es kann aber reichen, dass eingetrocknete Kristalle im Verschluss sitzen. Wenn jemand daran dreht, geht die Säure hoch.
Der Gefahrstoff-Beauftragte jeder Schule (ein Lehrer oder der Schulleiter) kontrolliert die Lagerung der Gefahrstoffe regelmäßig. Petrak ist in seinen 15 Dienstjahren noch kein Unfall mit Pikrin untergekommen. Und: "Schüler dürfen mit Pikrinsäure nicht arbeiten", erklärt der Chemiker.
Der Stoff wird u.a. zum Anfärben von Gewebe oder zum Zuckernachweis im Blut eingesetzt. Laut Petrak sollen die Experten jetzt einen weniger gefährlichen Alternativstoff für die Schulen finden. Apotheken sind laut Approbationsordnung verpflichtet, Pikrinsäure vorzuhalten. "Sie wird zum Mikroskopieren verwendet", erklärt die Wuppertaler Apothekerin Antoinette Jakobitz.
Wie lange die Tatortgruppe des LKA noch für die Entschärfung der Pikrinsäure braucht, kann niemand abschätzen, weil sich immer mehr Apotheken melden. Oberste Priorität bei der Entschärfung haben aber die Schulen, erst danach sind die Apotheken dran. "58 Einsätze haben wir bisher abgeschlossen", so die Bilanz des LKA. Mittlerweile kommt Verstärkung von der Bundespolizei.