Wie Katastrophen den Glauben prüfen
Bamberg (dpa) - Die Erde bebt, eine riesige Flutwelle rollt auf das Land zu. Die Zahl der Toten, Verletzten und Vermissten lässt sich noch gar nicht beziffern, das Ausmaß der nuklearen Katastrophe nur ansatzweise erahnen.
Die apokalyptisch anmutenden Ereignisse in Japan führen zu einem Problem, das die Welt beschäftigt, seit es Religionen gibt: Warum leiden Menschen? Speziell die monotheistischen Religionen fragen sich auch: Warum lässt ein Gott, der gemeinhin als gütig und liebend gilt, Unschuldige von Katastrophen und Leid treffen?
Eine eindeutige Antwort, so sagt der Bamberger Theologieprofessor Klaus Bieberstein sogleich, darf man auf diese Frage nicht erwarten. „Das Problem ist nicht lösbar.“
Generationen von Denkern haben sich an dem schier unlösbaren Dilemma versucht, dass speziell das Neue Testament den liebenden Gott hervorhebt - zugleich aber Unheil über die Welt kommt und gerade Unschuldige trifft. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) kam in seinem Werk „Theodizee“ von 1710 zu dem Schluss: Es ist nun mal die beste aller möglichen Welten, auf der wir leben. Und diese Welt hat stets auch das Potenzial, sich zu verbessern.
Und dann bebte am 1. November 1755 in Portugal die Erde. Lissabon wurde nahezu komplett zerstört, es starben rund 100 000 Menschen, weil auch ein Tsunami hereinbrach. Die Katastrophe war eine Zäsur und schockierte ganz Europa. Die Ungeheuerlichkeit der Naturgewalt, die Vielzahl der Toten, das Inferno in der zerstörten Stadt, in der die Trümmer durch Kirchenkerzen und Herdfeuer auch noch entflammten - all das war so unfassbar, dass die Welt nicht mehr als gut und schön, Gott nicht mehr als gerecht gelten konnte.
Der französische Philosoph Voltaire schrieb zutiefst resigniert in einem Brief: „Da haben Sie, mein Herr, ein ziemlich grausames Naturschauspiel. Man dürfte verblüfft sein, wollte man sich begreiflich machen, wie die Bewegungsgesetze derartig furchtbare Desaster in der besten aller möglichen Welten verursachen. Einhunderttausend Ameisen, unser Nächster, sind auf einen Schlag in unserem Ameisenhaufen umgekommen, von denen sicher die Hälfte unter unsäglichen Ängsten unter den Trümmern starb, aus denen man sie nicht befreien konnte. (...) Welch trauriges Glücksspiel ist das menschliche Leben!“
Ob Philosophie, Literatur oder Theologie - das Erdbeben von Lissabon entfaltete großen Einfluss, wie auch Goethe später notierte: „Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.“
Es gebe, sagt Theologieprofessor Bieberstein, schon seit Jahrtausenden verschiedene Modelle, die sich um Erklärungen mühen, warum Unschuldigen Leid widerfährt. So etwa lasse sich aus dem Alten Orient die Idee nachweisen, dass man selbst zwar nichts Böses getan habe, aber wegen Schuld und Versagens der Vorfahren bestraft wird. Der Prophet Ezechiel im Alten Testament weist das aber zurück: Gott gebe die Chance für einen Neubeginn.
Ezechiel verwirft auch die Vorstellung, dass das Individuum zwar unschuldig sei, aber stellvertretend für den Rest einer sündhaften Gesellschaft leiden müsse. „Ezechiel lehnt das ab: Gott überträgt die Schuld nicht von A auf B“, sagt Bieberstein. Doch gerade das frühe Christentum habe die Idee übernommen, indem es hieß, Jesus habe mit seinem Kreuzestod stellvertretend die Schuld der Menschheit getragen.
Weitere Varianten fragen, inwieweit das Böse in der Welt mit der Allmacht Gottes vereinbar ist. Hat er auch das Böse erschaffen? Hat er durch die Schöpfung der Welt das Chaos in seine Schranken gewiesen und kämpft er immer noch gegen das Chaos an? Ein anderes Modell, so Bieberstein, verweist die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ins Jenseits: Die Welt produziere zwar Opfer, aber Gott werde es nicht hinnehmen, dass das Böse letztlich siegt.
Der evangelische Pfarrer Werner Thiede, der an der Universität Erlangen-Nürnberg Theologie lehrt, hat Verständnis dafür, wenn angesichts schlimmer Katastrophen brennende Fragen laut werden, die den Sinn des Leidens anzweifeln und nur Chaos auf der Welt vermuten. Aber das Christentum spreche gar nicht von einem „stets alles herrlich regierenden“ Gott, sagt Thiede. „Die Vaterunser-Bitte "Dein Reich komme" zeigt ja an, dass die Herrschaft Gottes noch nicht allgemein da ist.“
Und so bleiben auch in der Religion mehr Fragen als Antworten. Prägnant ausgedrückt hat das der bekannte Jesuitenpater Karl Rahner: „Die Unbegreiflichkeit des Leides ist ein Stück der Unbegreiflichkeit Gottes.“