Artensterben im Amazonasbecken zeitverzögert
London (dpa) - Gut sechs Prozent der Vogel-, Amphibien- und Säugetierarten müssten im brasilianischen Amazonasbecken mittlerweile ausgestorben sein - weil der Regenwald dort seit vier Jahrzehnten zerstört wird.
Doch bis 2008 waren gerade einmal ein Prozent tatsächlich verschwunden, berichten Biologen in der Fachzeitschrift „Science“. Grund für das verzögerte Artensterben sei die sogenannte Aussterbeschuld (extinction debt): Wenn der Lebensraum einer Tierart zerstört werde, dauere es einige Generationen, bis die Art vollständig verschwinde. Der brasilianische Regenwald beginne gerade erst, seine Aussterbeschuld anzuhäufen.
Oliver Wearn vom Imperial College London hatte dafür mit Kollegen ein mathematisches Modell entwickelt. Es sagt voraus, wie schnell Wirbeltierarten in einer Region aussterben, abhängig davon, wie viel von ihrem Lebensraum verloren geht. Zunächst wurde mit dem Modell rekonstruiert, wie viel Wald zwischen 1970 und 2008 im brasilianischen Amazonasbecken zerstört und wie sehr dadurch die Artenvielfalt gefährdet wurde.
Anschließend wurden vier Szenarien erstellt, wie es im Jahr 2050 um den Artenschwund und die Aussterbeschuld stehen könnte. Die Szenarien waren abhängig von der künftigen Entwaldung und wurden jeweils für Gitterzellen von 50 mal 50 Kilometer Größe durchgerechnet.
Das bedrohlichste Szenario: Der Regenwald wird weiter wie bisher zerstört, das heißt fortan gehen wie im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre mindestens 28 000 Quadratkilometer pro Jahr verloren. Das entspricht fast der Fläche Brandenburgs. In diesem Szenario würden 10,3 Prozent der Wirbeltierarten bis 2050 aussterben, weitere 26,9 Prozent wären gefährdet.
Ein zweites Szenario geht davon aus, dass Regierungsmaßnahmen greifen, Schutzgebiete beispielsweise besser kontrolliert werden. Dann würden dem Modell nach nur 6,5 Prozent der Wirbeltierarten bis 2050 aussterben und weitere 10,6 Prozent in Aussterbeschuld stehen.
Die zwei weiteren Szenarien sind sehr optimistisch: Das eine Mal wird angenommen, dass es gelingt, bis 2020 den jährlichen Waldverlust auf ein Fünftel des aktuellen Werts zu verringern; das andere Mal soll die Entwaldung bis 2020 vollständig gestoppt sein. Unter diesen Umständen würden nur noch 5,8 beziehungsweise 4,4 Prozent der Wirbeltierarten bis 2050 aussterben. 10,1 beziehungsweise 4,9 Prozent wären bedroht.
„Die vor uns liegenden Jahre bieten die Gelegenheit, Umweltschutzmaßnahmen auf die Gegenden mit der größten Aussterbeschuld zu konzentrieren. Das könnte die zu zahlende Schuld verringern“, erklären die Forscher.
Das Amazonasbecken ist das Einzugsgebiet des Amazonas, eines der längsten Flüsse weltweit. Rund 60 Prozent des Beckens liegen im brasilianischen Staatsgebiet. Das brasilianische Amazonasbecken wiederum macht etwa vier Zehntel des weltweiten tropischen Regenwalds aus. In den vergangenen Jahrzehnten wurden jedoch mehr als 810 000 Quadratkilometer Wald zerstört - das entspricht mehr als zweimal der Fläche der Bundesrepublik Deutschland.