Forscher: In Insekten schlummert gigantische Naturstoff-Bibliothek

Gießen (dpa) - Das große Krabbeln gehört zum Forschungsalltag des Gießener Professors Andreas Vilcinskas. Seit dem Jahr 2010 baut der Wissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität zusammen mit der Fraunhofer-Gesellschaft und weiteren Partnern die junge Disziplin Insektenbiotechnologie auf.

Im Interview mit der Nachrichtenagentur dpa erklärt der Biologe, warum Insekten nicht nur als Plagegeister gesehen werden sollten - und wie sie zu unseren Partnern werden können.

Frage: Viele Menschen haben für Insekten nichts übrig und holen beim ersten Summen die Fliegenklatsche. Sie und Ihr Team dagegen das Mikroskop. Warum?

Antwort: Mein Lieblingsspruch ist: Von Insekten lernen, heißt Siegen lernen. In der Evolutionsbiologie wird Erfolg durch Biodiversität definiert. Wer die höchste Artenvielfalt entwickelt hat, gilt als erfolgreich. Und allein mit ihren beschriebenen 1,2 Millionen Arten sind Insekten mit Abstand die artenreichste Organismengruppe. Diese Vielfalt finden wir auch auf molekularer Ebene. Die Tiere verfügen über unterschiedliche Substanzen, um sich vor Angreifern zu schützen oder Parasiten auszuschalten. Das heißt: In Insekten schlummert eine gigantische Naturstoff-Bibliothek. Unser Forschungsauftrag ist, diese Vielfalt zu erschließen und zum Wohl der Menschen nutzbar zu machen.

Frage: Ihr Fach ist die Insektenbiotechnologie. Was ist das genau?

Antwort: Wir verstehen darunter die Anwendung von biotechnologischen Methoden, um Insekten, ihre Zellen, Organe, Moleküle oder die mit ihnen assoziierten Mikroorganismen in marktreife Produkte oder Dienstleistungen zu verwandeln. Es geht um den Einsatz etwa in der Medizin, Lebensmittelwirtschaft oder beim Pflanzenschutz. Wir leisten Pionierarbeit auf dem Gebiet, wir erforschen Dinge, die vielleicht erst in 10, 20 Jahren auf den Markt kommen.

Frage: Welche Anwendungen in der Medizin sind denkbar?

Antwort: Antibakteriell wirkende Enzyme zum Beispiel, die wir in der Wachsmotte gefunden haben, kommen jetzt in die präklinische Forschung. Im asiatischen Marienkäfer konnten wir eine Substanz isolieren, die gegen Malaria-Erreger wirkt.

Frage: Sie setzen Insekten auch quasi als Schnüffler ein. Bienen etwa werden auf Sprengstoffsuche geschickt. Warum Insekten?

Antwort: Die Antennen von Insekten sind die empfindlichsten Organe, die die Evolution zur Wahrnehmung von Düften hervorgebracht hat. Die reagieren schon auf einzelne Moleküle. Man kann das nutzen, um etwa Bienen zu trainieren, Sprengstoff oder Drogen zu „erschnüffeln“ - oder für die Elektroantennographie. Das ist eine Methode, um die „Riechfähigkeit“ eines Insektes zu messen. Wir haben ein Gerät entwickelt, bei dem echte Insektenantennen als Biosensoren eingesetzt werden. Das Gerät ist ein Prototyp, wurde aber schon erfolgreich getestet, um biologische Insektenschutzmittel zu optimieren.

Frage: Für Ihre Arbeit töten Sie auch Insekten - haben Sie keinen Ärger mit Tierschützern?

Antwort: Man kann schlecht gegen diese Forschung argumentieren, solange es eine Fliegenklatsche irgendwo zu kaufen gibt und tonnenweise Insektizide versprüht werden.

Frage: Wie finden Sie die vielversprechenden Stoffe in den Krabblern?

Antwort: Ich habe eine Fragestellung oder eine Kundenanfrage und überlege mir dann, welches Insekt ich mir vornehme. Unsere Suche basiert auf Erkenntnissen und Theorien der Evolutionsbiologie und Ökologie. Wenn ich zum Beispiel ein Antibiotika suche, dann nehme ich Arten unter die Lupe, die über ein sehr potentes Immunsystem verfügen müssen, weil sie in Kot leben. In Rattenschwanzlarven, die einzigen Tiere, die nur in Jauche und Gülle vorkommen, haben wir einen irren Cocktail neuer Moleküle gefunden. Man kann so viel mit Insekten machen - sogar Fett für die Kosmetikindustrie herstellen.

Frage: Nur würde wohl kaum einer Insekten-Creme kaufen, oder?

Antwort: Insekten haben ein Imageproblem. Auch darum geht es bei unserer Arbeit: Zeigen, welchen Nutzen die Tiere haben. Vieles ist einfach nur Kopfsache. Beispiel: Einmal kam ein Getränkehersteller zu uns und fragte nach Konservierungsstoffen aus Insekten. Im Totengräberkäfer wurden wir fündig. Der Hersteller sagte dann aber: Wenn da steht, das kommt aus dem Totengräberkäfer - glauben Sie, das kauft noch einer? Wenn ich diese Frage nun bei Vorträgen stelle, hebt in der Tat kaum einer die Hand. Sage ich aber, der Stoff kommt aus der Biene - die ist positiv belegt - sieht es anders auch.