Mit Higgs zum Nobelpreis: Große Würde für kleines Teilchen
Stockholm/Berlin (dpa) - Physiker hatten fast alle Bausteine der Materie nachgewiesen. Doch ausgerechnet die Tatsache, dass jeder Mensch und jedes Teilchen eine Masse hat, bereitete ihnen Kopfzerbrechen.
Einige Physiker stellten 1964 eine Theorie dazu auf, die nun einen Nobelpreis wert ist.
Peter Higgs und François Englert lauschen mit Hunderten Physikerkollegen in Genf gebannt den Worten der Italienerin Fabiola Gianotti. Weltweit 270 000 Menschen verfolgen den Vortrag der eloquenten Physikerin live per Internet. Nach 50 Minuten und zahlreichen Formeln war klar: Mit der Wahrscheinlichkeit von 3 Millionen zu 1 haben Forscher am Europäische Kernforschungszentrum Cern ein Teilchen gefunden, das zu den Vorhersagen von Higgs passt.
Dieser wischt sich über seine feuchten Augen. „Es ist wirklich unglaublich, dass dies während meiner Lebenszeit geschehen ist“, sagt er am 4. Juli 2012, knapp 50 Jahre, nachdem er das Teilchen vorhergesagt hat. Gut ein Jahr später werden der Brite Higgs (84) und der Belgier Englert (80) nun mit dem Nobelpreis gekürt.
Englert bemerkte nach dem Vortrag am Cern, dass er und andere Physiker damals zwar den ganzen Prozess gestartet hätten, über das, was das Cern geleistet habe, sei er aber „einfach verblüfft.“
Gianotti hatte im Namen der gesamten Atlas-Gruppe am Cern gesprochen, die seit über 20 Jahren versucht, die Theorie von Peter Higgs und anderen Physikern zu bestätigen. Dazu haben die Physiker im 27 Kilometer langen Kreistunnel Milliarden von Teilchen mit rasender Geschwindigkeit aufeinandergeschossen und die gewonnenen Daten ausgewertet. Zusammen mit dem zweiten Higgs-Team am Detekor CMS haben rund 6000 Forscher am Cern-Teilchenbeschleuniger LHC nach dem Higgs-Teilchen gesucht. Ein Gottesteilchen möchte Gianotti den Fund aber nicht nennen - wie fast alle Physiker.
Vor Jahrzehnten schon haben Forscher ein Modell der Materie ersonnen und später einzelne Teilchen nachgewiesen. Doch was bislang fehlte, war die Masse. Ohne Masse aber wären weder Planeten noch Wasser oder Menschen denkbar. Nach den Vorstellungen von Higgs und Kollegen durchzieht ein nach ihm benanntes Feld das Universum wie ein unsichtbarer Sirup. Die Teilchen reiben sich daran und bekommen Masse. Das Feld zeigt sich den Physikern über das Higgs-Teilchen.
Im Jahr 1964 hatten sowohl Higgs als auch Englert zusammen mit Robert Brout Fachartikel zu diesem Feld veröffentlicht. Brout ist vor zwei Jahren gestorben.
Mehrere Physiker hätten in den 1960er Jahren zeitgleich die Idee eines Higgs-Felds gehabt, erläutert Joachim Mnich, Direktor für Teilchenphysik am Hamburger Forschungszentrum Desy - und Englert gehöre dazu. „Higgs hat aber als erster aufgeschrieben, dass dieser Mechanismus auch mit der Existenz eines Teilchens verbunden ist.“
Inzwischen gehen die Physiker davon aus, dass das 2012 nachgewiesene Teilchen wirklich ein Higgs-Boson ist. Doch wie viele andere Forscher stellt auch Olga Botner vom Nobelkomitee klar: „Das ist natürlich nicht das letzte Stück des Puzzles des Universums.“ Viele Physiker schließen in einem neuen Model der sogenannten Supersymmetrie nicht aus, dass es sogar fünf verschiedene Higgs-Teilchen gibt. Das nun entdeckte wäre das leichteste davon.
„Es gibt noch viele große Fragen, zuerst die Frage, die noch nicht geklärt ist, ist das der Supersymmetrie“, meint auch Englert. Die Supersymmetrie - kurz Susy - besagt, dass jedes bekannte Teilchen zumindest einen Gegenpart hat. Sie baut auf das Standardmodell auf.
Dieses beschreibt zwar bekannte Phänomene, hat aber noch Schwächen: Es erklärt weder die Dunkle Materie noch die Dunkle Energie, die den Großteil des Universums ausmachen. Die Dunkle Energie macht sich bemerkbar, weil sich das Universum schneller ausdehnt, als mit der Materie erklärbar ist. Die Dunkle Materie zeigt sich dadurch, dass sich die Galaxien an den Außenrändern schneller bewegen als mit derzeitigem Wissen zu berechnen ist. In jedem Fall bleibt viel zu forschen.
Ein praktischer Nutzen der Erkenntnisse von Higgs und Englert sei noch nicht absehbar, meint Mnich. „Aber ich würde das nicht für alle Ewigkeiten ausschließen.“ Auch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie habe zunächst keinen erkennbaren praktischen Zweck gehabt. „Heute steckt sie im Navi, um dessen Genauigkeit zu erlangen.“