Zahl der getöteten Kinder um 20 Prozent gestiegen
Berlin (dpa) - In Deutschland wird jeden zweiten Tag ein Kind gewaltsam getötet - Tendenz steigend. Wie die Deutsche Kinderhilfe und der Bund Deutscher Kriminalbeamter in Berlin mitteilten, stieg 2010 die Zahl der Kinder unter 14 Jahren, die einem Tötungsdelikt zum Opfer fielen, um gut 20 Prozent auf 183.
129 dieser Opfer waren jünger als sechs Jahre. Kinderhilfe und Kriminalbeamte dringen angesichts dieser Tendenz auf eine baldige Reform des derzeit mangelhaften Kinderschutzes. Auch die Fälle körperlicher Misshandlung nahmen 2010 wieder zu, und zwar um sieben Prozent auf knapp 4400 Fälle. Die Zahl der Opfer sexueller Gewalt stieg nach rückläufiger Tendenz in den vergangenen Jahren wieder, und zwar um 2,7 Prozent auf rund 14 700. Bei der Statistik handele es sich um die registrierten Fälle. Die Dunkelziffer sei deutlich höher, erläuterte der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke.
Mädchen und Jungen seien gleichermaßen betroffen, sagte Ziercke bei der Erläuterung der Kriminalstatistik. Die Täter seien häufig unter der Verwandtschaft oder Bekanntschaft zu finden. Klein- und Kleinstkinder würden oft von Müttern misshandelt, bei älteren Kindern seien es häufiger Väter. Die Tatsache, dass in Deutschland „jeden zweiten Tag ein Kind Opfer eines Tötungsdeliktes wird (...), muss uns mehr als nachdenklich stimmen“, mahnte Ziercke.
Misshandlungen von Kindern - etwa schütteln und rütteln, an die Wand werfen oder auf die heiße Herdplatte setzen - seien durchaus erkennbar, wenn man aufmerksam genug beobachte, machte Ziercke deutlich. Er appellierte an die Bürger: „Aufklärung ist abhängig von der Bereitschaft der Menschen hinzusehen.“
Die Entwicklungen lassen nach Ansicht des Vorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe, Georg Ehrmann, befürchten, dass der sogenannte Kevin-Effekt an Wirkung verliert, noch bevor der momentan unzureichende Kinderschutz reformiert wird. Der zweieinhalbjährige Junge wurde 2006 tot im Kühlschrank seines Ziehvaters in Bremen entdeckt. Das Kind starb an schweren Misshandlungen. Danach stieg die Aufmerksamkeit für solche Delikte, die Jugendämter machten mehr Hausbesuche und nahmen häufiger geschundene Kinder in Obhut.
2007 lud Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum ersten nationalen Kindergipfel ins Berliner Kanzleramt. Unter dem Eindruck des toten Kevins sei sich damals die Politik einig gewesen, das Jugendhilfesystem zu erneuern. Das Scheitern des Kinderschutzgesetzes zwei Jahre später sei allerdings „ein großer Rückschlag für mehr Kinderschutz in Deutschland“ gewesen, argumentierte Ehrmann.
Auch der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Klaus Jansen, verlangt ein Bundeskinderschutzgesetz und klare Regelungen für den Umgang mit Kindesmissbrauch - etwa der Möglichkeit von Kinderärzten, sich untereinander auszutauschen. Zudem sei der Präventivbereich zu stärken, einschließlich der Vorlage eines Führungszeugnisses für haupt- und ehrenamtliche Jugendbetreuer.
Ehrmann verlangte einheitliche Fach- und Diagnosestandards sowie eine „aktive Einbindung“ von Schulen und Kinderärzten in die Jugendhilfe. 600 Jugendämter in Deutschland arbeiteten unterschiedlich und richteten Jugendschutz nach der Kassenlage aus. Damit „hängen die Überlebenschancen eines Kindes nach wie vor davon ab, ob es in München, Stuttgart oder Königswinter zur Welt kommt“, beklagte die Kinderhilfe.