Beweisaufnahme Zeugen im Loveparade-Prozess: „Der Druck war so stark“
Düsseldorf (dpa) - Die Enge, die Angst, die Schreie: Mit eindringlichen Schilderungen der ersten Zeugen hat im Prozess um das tödliche Gedränge bei der Loveparade die Beweisaufnahme begonnen.
Eine 31-Jährige und ein 34-Jähriger erzählten den Richtern von ihren Erinnerungen an die Katastrophe. Die 31-jährige Auszubildende war vor sieben Jahren mit ihrer Schwester bei dem Musikspektakel. Dabei seien sie in das Gedränge geraten und getrennt worden. Obwohl die beiden Frauen überlebten, habe sich danach alles im Leben geändert, berichtete sie am Donnerstag.
Beim Loveparade-Unglück am 24. Juli 2010 in Duisburg waren im Gedränge Zehntausender Menschen am einzigen Zu- und Abgang des Veranstaltungsgeländes 21 Menschen erdrückt und mindestens 652 verletzt worden.
Ihre Schwester habe sich auf dem Loveparade-Gelände an einer Glasscherbe die Hand verletzt, berichtete die 31-Jährige am Donnerstag stockend und schwer atmend. „Die Wunde war recht tief und hat nicht aufgehört zu bluten.“ Auf der Suche nach medizinischer Hilfe seien die beiden dann in das Gedränge geraten. Eine Kette aus Polizisten habe sie am Verlassen des Geländes gehindert. Die Kette sei dann auseinandergerissen worden, das Gedränge habe zugenommen.
Ihre Schwester habe noch gefleht: „Halt meine Hand fest, lass ja nicht los.“ Doch sie sei dennoch weggerissen worden. „Der Druck war so stark. Ich habe sie aus den Augen verloren. Wir wurden von vorne und von hinten gedrückt wie Sardinen in der Büchse. Ich bekam keine Luft. Man konnte sich nicht bewegen.“
Ein junger Mann habe ihr noch geholfen, ihren Kopf gehalten und gesagt: „Ich helfe dir.“ Beim Versuch, eine Treppe an der Zugangsrampe zu erreichen, sei sie dann aber gestürzt. Menschen hätten auf ihr gelegen.
„Links von mir lag ein junges Mädchen und rief: „Hilf mir, hilf mir.“ Aber das ging nicht. Ich konnte mich selbst nicht befreien, weil Menschen auf mir lagen. Es wurde immer schwerer und schwerer. Weiter weiß ich nicht mehr, ich bin dann im Krankenhaus auf der Intensivstation wach geworden“, sagte die 1,58 Meter große Duisburgerin.
Zeitlich könne sie das Geschehen kaum einordnen: „Für mich hat es eine Ewigkeit gedauert.“ Sie sei um 13.00 Uhr zu Hause aufgebrochen und mit dem Taxi zum Gelände gefahren. „Ich mag die Musik, ich wollte David Guetta sehen.“ Zunächst sei die Stimmung ausgelassen und gut gewesen. Die Absperrgitter seien allerdings wie ein Labyrinth aufgebaut gewesen.
Das Erlebte habe ihr Leben verändert. Bis zum vergangenen Jahr sei sie arbeitsunfähig gewesen, ihre Ausbildung zur Friseurin habe sie damals abbrechen müssen. Ab und zu verspüre sie heute noch „diesen ungeheuren Druck“, sagte die Zeugin. „Wenn ich etwas Bestimmtes rieche oder viele Menschen sehe, kommt das wieder.“ Ein Jahr nach der Katastrophe sei sie sieben Wochen lang in einer psychosomatischen Klinik gewesen.
Sie sei sogar nach Kaiserslautern gezogen, um Duisburg aus dem Sinn zu bekommen, vor einem Jahr aber zurückgekehrt. Sie habe immer noch Schuldgefühle, weil sie der jungen Frau neben ihr nicht habe helfen können. Sie wisse nicht, was aus ihr geworden sei. Ihre Schwester habe überlebt.
Als zweiter Zeuge berichtete ein 34-jähriger Lehrer aus dem Raum Stuttgart, der damals als Student den Semesterabschluss bei der Loveparade feiern wollte. Vom Bahnhof habe er durch den Tunnel versucht, auf das Gelände zu gelangen. Doch so weit sei er nicht gekommen. Als Leute begannen, an der Zugangsrampe einen Lichtmast hochzuklettern, sei ihm das komisch vorgekommen.
Der Druck habe dann sehr schnell zugenommen, Menschen drängten vom und auf das Gelände. „Das waren Zehntausende, das konnte eigentlich nach normalem Menschenverstand nicht funktionieren, die Leute haben aber darauf vertraut, dass es geht. Es war ein Teufelskreislauf. Ich hatte Glück, weil ich recht groß bin, die Kleineren hatten sichtbar Probleme.“ Er habe irgendwann begonnen, das Geschehen zu filmen.
Die Stimmung sei zunehmend gereizter geworden. Als sich das Gedränge schließlich auflöste und sich die Menge zerstreute, hätten vor ihm zwei leblose Körper gelegen, ein Mann und eine Frau. Er habe noch versucht, Erste Hilfe zu leisten und beide mit Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben - vergeblich.
Mit der Aussage der beiden Zeugen stieg das Gericht am Donnerstag in die Beweisaufnahme ein. Wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung sind sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent angeklagt. Ihnen werden schwere Planungsfehler sowie eine rechtswidrige Genehmigung der Loveparade vorgeworfen. Der Prozess hatte im vergangenen Dezember begonnen. Aus Platzgründen findet das Verfahren des Duisburger Landgerichts in der Düsseldorfer Messe statt.