Loveparade-Katastrophe Loveparade-Prozess: Zeugin schildert das Grauen von Duisburg
Erstmals kommen die Opfer im Loveparade-Prozess zu Wort. Ihre Schilderungen gehen unter die Haut. Das Video eines Zeugen lässt den ganzen Horror des Unglücks wieder aufleben.
Düsseldorf. Es dauert quälend lange Sekunden, bis sie zu reden beginnt: die erste Zeugin im Loveparade-Prozess, der an den vorherigen sechs Verhandlungstagen vor allem von Verzögerungstaktik der Verteidiger geprägt war. Doch jetzt ist es ganz still, als die 31-Jährige stockend und unterbrochen von Schluchzen zu erzählen beginnt. Wie sich am 24. Juli 2010 ihr Leben veränderte — an dem Tag der Katastrophe, bei der 21 Menschen erdrückt und mindestens 652 verletzt wurden.
Das Bild der jungen Frau mit den langen dunklen Locken wird auf die Videoleinwand im zum Gerichtssaal umfunktionierten Kongresssaal der Düsseldorfer Messe übertragen. Wie sie nach unten schaut, nervös mit einem Taschentuch spielt. Sie erzählt, dass sie mit ihrer Schwester zum Loveparade-Gelände fuhr. Dass dort die Stimmung erst noch gut ist. „Die Leute haben gelacht, gesungen.“ Und dann, oben am Rand des Geländes angekommen, sehen sie, wie die Menschen auf den Wagen zur Musik tanzen. Doch da sind auch erste Bedenken. Absperrgitter, „die wie ein Labyrinth wirken“, Zäune, die wackeln, weil Menschen darauf klettern.
Weil sich ihre Schwester durch den Schnitt einer Glasscherbe an der Hand verletzt hat, wollen sie zurück, einen Sanitäter suchen, auf dem Weg zurück wird es immer enger. Plötzlich ist da eine Polizeikette, „die Polizisten haben sich gegenseitig eingehakt“. Doch auf beiden Seiten dieser Kette wird es minütlich enger. „Wir kamen nicht mehr voran, nicht vor und nicht zurück.“ „Hier warten“, habe eine Beamtin gesagt, „ich stand direkt vor der Polizeikette“. Aber diese sei plötzlich auseinandergerissen worden. „Durch den ganzen Druck, so sah es jedenfalls für mich aus. Wir spürten den Druck ja auch. Meine Schwester, die ich an der Hand hatte, hatte gerade noch gerufen, ,lass ja nicht los’, da wurden wir schon auseinandergerissen, verloren uns aus den Augen. Ich habe sie gerufen, und irgendwann nur noch nach Luft geschnappt. Das Gedrücke kam wellenartig, ich wurde mehr und mehr an die Wand gedrängt. Über die Treppe wollte ich raus, ein Junge hielt mich an der Hand, wollte mich in Sicherheit bringen. Dann bin ich gefallen, andere auf mich drauf. Neben mir lag ein Mädchen, ich konnte ihm nicht helfen. Habe nur gemerkt, dass das Gewicht über mir immer schwerer wurde. Dann bin ich im Krankenhaus aufgewacht.“
Nach ein paar Tagen wurde sie entlassen, Organe und Knochen unverletzt, nicht aber ihre Seele. Der Druck, der auch heute noch manchmal auf ihrem Brustkorb laste, trete immer wieder auf, wenn sie durch etwas, was sie sieht oder riecht, an den Tag erinnert wird. Es folgten mehrwöchige Aufenthalte in der psycho-somatischen Klinik.
Der Zeuge, der dann folgt, ist ganz anders. Ein heute 34-jähriger Lehrer aus Nürtingen. Der damalige Student war allein zur Loveparade angereist. Auf ihn war die Polizei aufmerksam geworden, weil er Videos von der Katastrophe auf Youtube hochgeladen hatte. Videos, die am Donnerstag etwa eine halbe Stunde lang im Gerichtssaal gezeigt werden und den ganzen Horror der Katastrophe wieder aufleben lassen.
Die ersten Bilder zeigen eine noch ausgelassene Stimmung. Chöre, wie man sie von Fußballfans auf dem Weg ins Stadion kennt. Auch an dem Ort der späteren Katastrophe sind die Menschen zunächst noch entspannt. Dann klettern die ersten einen Lichtmast hoch, bringen sich vor den immer dichter werdenden Massen in Sicherheit. Streben zu einer engen Treppe, auf der plötzlich auch Polizisten zu sehen sind. Wer oben ankommt, jubelt den unten Verbliebenen zu — in Verkennung der Lage, dass es dort minütlich ernster wird. Noch sieht man ein paar lachende Gesichter, aber auch Flüche sind bereits zu hören. Einer wünscht sich den Eventmanager her, der solle sich doch mal in die Menge stellen. Eine jammernde Frauenstimme zu hören, dann immer schriller werdende Schreie, das Gesicht einer Bewusstlosen und aufmunternde Zurufe „Du schaffst es“. Die Bilder werden immer verwackelter, die Schreie lauter, und im Hintergrund hört man die wummernden Bässe der Festival-Musik.
Schnitt: Die letzten Sequenzen des Films zeigen ein Gebiet wie ein Schlachtfeld, abgedeckte Tote. Und der Mann, der all das gefilmt und danach auch noch erfolglose Wiederbelebungsversuche unternahm, geht orientierungslos über das Gelände, filmt weiter. „Surreal war das“, sagt er dem Richter am Donnerstag. „Glückliche Menschen kamen mir entgegen, die von all dem nichts mitbekommen hatten, und ich lief da rum wie ein Zombie“.
Noch bis 22 Uhr sei er in diesem Zustand auf dem Gelände geblieben. Sein Video, das kündigt Richter Mario Plein am Ende des Verhandlungstages an, dürfte noch mehrfach in all seinen furchtbaren Details gezeigt werden. Um bei der Aufklärung der Frage zu helfen: Wer hat all das zu verantworten?