Arbeitsmarkt öffnet sich: Chancen und Risiken
Berlin (dpa) - Mit dem 1. Mai brauchen Polen, Tschechen oder Ungarn keine Arbeitserlaubnis für Deutschland mehr. Steht eine neue Einwanderungswelle bevor oder verläuft sich der Zustrom an neuen Arbeitskräften?
Berlin (dpa) - Mit dem 1. Mai brauchen Polen, Tschechen oder Ungarn keine Arbeitserlaubnis für Deutschland mehr. Steht eine neue Einwanderungswelle bevor oder verläuft sich der Zustrom an neuen Arbeitskräften?
Am 1. Mai ist es soweit. Dann öffnet sich der deutsche Arbeitsmarkt auch für Bürger aus den acht osteuropäischen Ländern, die 2004 der EU beigetreten sind. Um nach Deutschland zu kommen, brauchen sie künftig keine Arbeitserlaubnis mehr. Noch ist unklar, wie viele von ihnen kommen werden. Experten sehen freilich keine neue Völkerwanderung. Viele Bundesbürger fragen sich dennoch, was da auf Deutschland zukommt.
Um was geht es?
Es geht darum, dass Arbeitnehmer aus Ländern der Europäischen Union in der EU frei arbeiten können. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist Teil der vier Grundfreiheiten für Personen, für Waren und Dienstleistungen sowie den Kapital- und Zahlungsverkehr. Um Verwerfungen am Arbeitsmarkt durch Zuwanderung von Niedriglöhnern zu verhindern, schränkten Deutschland und Österreich die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den osteuropäischen Beitrittsländern befristet ein. Die Übergangsregelungen fallen nach sieben Jahren jetzt weg. Nur für Rumänien und Bulgarien gelten sie noch bis Ende 2013 weiter. Dann ist mit der Einschränkung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus dem EU-Raum endgültig Schluss.
Für wen gilt die neue Freiheit?
Für die Bürger aus den mittelosteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Lettland, Litauen, und Estland. Malta und Zypern, die ebenfalls 2004 zur EU kamen, waren von den Einschränkungen ausgenommen.
Wie viele Zuwanderer werden erwartet?
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg rechnet - wie auch EU-Arbeits- und Sozialkommissar László Andor - mit etwa 100 000 Arbeitnehmern aus den MOE-Staaten, die jährlich nach Deutschland kommen. Bis 2020 könnten es zwischen 600 000 und 900 000 sein. Für Horrorzahlen von mehreren Millionen Immigranten in diesem Jahrzehnt gibt es nach Einschätzung der Experten keine stichhaltigen Anhaltspunkte. Im Gegenteil: „Die Zuwanderung wird sehr bescheiden sein“, ist der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes BDA, Reinhard Gönner, überzeugt. Bereits heute arbeiten 400 000 bis 600 000 Polen in Deutschland, legal mit Ausnahmegenehmigung oder illegal.
Wie ist die Situation aktuell?
Schon bisher waren Arbeitskräfte aus MOE-Staaten in Deutschland im Einsatz: Die meisten Saison-Arbeitserlaubnisse für Spargelstecher oder Erdbeerpflücker - rund 185 000 von insgesamt knapp 300 000 - gingen 2009 laut Bundesagentur für Arbeit an polnische Staatsbürger. Das Migrationspotenzial in seinem Heimatland hält der polnische Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, daher für „weitgehend ausgeschöpft“. Nach seiner Einschätzung werden in den nächsten vier Jahren vielleicht noch 200 000 bis 300 000 seiner Landsleute nach Deutschland kommen. Die meisten auswanderungswilligen Polen seien schon 2004 oder danach gen England oder Irland gezogen. Ein Teil von ihnen könnte aber nun von dort mit Ziel Deutschland weiterziehen.
Welche Zuwanderer sind zu erwarten?
Darüber gehen die Meinungen auseinander. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) rechnet damit, dass vermehrt „der fleißige Mittelbau“ in Gestalt von Facharbeitern kommt. Und dass durch die Legalisierung die Schwarzarbeit zurückgeht. Bei den polnischen Arbeitgebern dagegen heißt es, für Qualifizierte sei Deutschland nicht mehr attraktiv genug. Anderswo - etwa in Schweden - seien Arbeitsbedingungen und Einkommen für Ärzte, Pfleger, Ingenieure oder Handwerker besser. Mehr Chancen in Deutschland könnten sich Geringqualifizierte ausrechnen, für die es in Polen keine oder wesentlich schlechter bezahlte Jobs gebe.
Ist die Zuwanderung mehr Chance oder mehr Risiko für Deutschland?
Bei Bundesregierung und Arbeitgebern überwiegen die positiven Erwartungen. Sie erhoffen sich, dass Deutschland von der Zuwanderung profitiert, sich damit der Fachkräftemangel zumindest teilweise beheben lässt. Experten wie der Vorsitzende des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration, Klaus Bade, gehen für 2015 bereits von drei Millionen fehlenden Fachkräften aus. Qualifizierte Zuwanderung gilt deshalb als wünschenswert. Die Gewerkschaften sind skeptischer: Sie befürchten, dass sich mit der neuen Freiheit der Druck auf Arbeitsbedingungen und Löhne erhöht.
Droht tatsächlich Lohndrückerei?
Aus DGB-Sicht hat die Bundesregierung zu wenig gegen Lohndumping getan. Zwar gibt es inzwischen Mindestlöhne für zahlreiche Branchen, darunter auch die Zeitarbeit. Nach diesen Mindestlöhnen müssen auch die neuen Zuwanderer bezahlt werden. Doch damit sieht der DGB nur das Schlimmste verhindert. So lange Leiharbeiter weniger verdienen als Stammbeschäftigte, sei der Anreiz für Firmen groß, die Kosten durch Abschmelzen der Stammbelegschaft zu minimieren. Deshalb fordern die Gewerkschaften für Leiharbeiter „gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ - und zwar ohne Umgehungsmöglichkeit. Dabei soll ihnen der Staat helfen. Die Bundesregierung will aber erst eingreifen, wenn die Tarifparteien sich nicht innerhalb eines Jahres verständigen können. Die Chancen dafür stehen eher schlecht.