Al-Kaidas aktivster Arm versetzt den Westen in Alarm

Kairo/Sanaa (dpa) - Jemens Hauptstadt Sanaa glich am Dienstag einer Stadt im Belagerungszustand.

„Drohnen kreisen über uns, in den Straßen fahren Panzerfahrzeuge, die Zugänge zu den Botschaften sind durch Kontrollpunkte blockiert“, berichtete Hakim al-Masmari, der Chefredakteur der „Yemen Post“, im Nachrichtensender Al-Dschasira.

Nach Terrorwarnungen der amerikanischen Geheimdienste blieben die westlichen Botschaften in Sanaa schon seit Sonntag geschlossen. Jetzt holen Briten und Amerikaner Botschaftspersonal heim und fordern ihre Landsleute auf, das südarabische Land umgehend zu verlassen.

Amerikanische Medien berichteten, dass die US-Geheimdienste ein Telefonat des Al-Kaida-Chefs Aiman al-Sawahiri mit dem Befehlshaber im Jemen, Nasser al-Wahischi, abgehört haben. Demnach habe der Jemenit den Befehl erhalten, US-Einrichtungen anzugreifen.

Es sei um „etwas Großes“ gegangen, berichtete der US-Fernsehsender CBS. Al-Sawahiri, der irgendwo in Pakistan vermutet wird, hatte außerdem in der Vorwoche seine Anhänger in einer Audio-Botschaft allgemein dazu aufgefordert, „westliche Interessen“ zu attackieren.

Das angebliche Telefonat des ägyptischen Nachfolgers von Osama bin Laden mit Al-Wahischi rückt den Jemen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. „Das war bedeutsam, denn es waren die Schwergewichte (der Al-Kaida), die da miteinander redeten, und noch dazu über einen sehr konkreten Zeitplan für eine oder mehrere Attacken“, zitierte die „New York Times“ einen namentlich nicht genannten US-Offiziellen, der über die Geheimdienstberichte in Kenntnis gesetzt wurde.

Experten gehen davon aus, dass Al-Kaida selbst unter Bin Laden nie eine wirklich festgefügte Organisation war, sondern eher ein loses Netzwerk, in dem vor allem persönliche Loyalitäten zählten und in dem Überzeugungstäter, die sich oft selbst anboten, bestimmte Terroraufträge ausführten. Nach der Vertreibung der Al-Kaida aus Afghanistan im Gefolge der Anschläge in den USA am 11. September 2001 verstärkte sich der dezentrale Charakter dieser Strukturen noch mehr.

In muslimischen Ländern mit Gebieten, in denen die Ordnung in Aufständen und Bürgerkriegen zusammenbrach, etablierten sich immer neue Al-Kaida-Ableger. Gruppen sunnitischer Dschihadisten (Glaubenskrieger) im Irak, im Jemen, in Somalia, in Nordafrika und zuletzt in Syrien erklärten sich selbst zum örtlichen Al-Kaida-Arm.

Dabei verfolgten sie weitgehend ihre eigenen Ziele: den Kampf um Macht und Einfluss in ihren jeweiligen Ländern - unter dem in diesen Kreisen wohlklingenden Markennamen der Al-Kaida, als Akteure eines makabren Franchise-Systems des Terrors.

Als Bin Laden im Mai 2011 in seinem pakistanischen Versteck von einem US-Sonderkommando getötet wurde, dürfte er die in den Kriegs- und Elendszonen der islamischen Welt florierenden Filialen seines Netzwerks kaum mehr operativ geführt haben. Auch sein ursprüngliches Anliegen, den „fernen Feind“ - die Amerikaner - zu bekämpfen, trat in den Hintergrund. Die neuen Formationen, die unter dem Al-Kaida-Label auftreten, sind mit ihren örtlichen Konflikten ausgelastet.

Eine Ausnahme ist der Ableger im Jemen. Unter Al-Wahischis Anleitung wurde der „Unterhosenbomber“ Umar Farouk Abdulmutallab ausgebildet, der im Dezember 2009 daran gehindert werden konnte, ein US-Verkehrsflugzeug über Detroit in die Luft zu sprengen. Auch bei anderen vereitelten Anschlägen auf US-Flugzeuge war die jemenitische Al-Kaida der Urheber.

Al-Wahischi war Bin Ladens Sekretär im Afghanistankrieg und kämpfte in jener Schlacht um die Bergfestung Tora Bora an seiner Seite, bei der Bin Laden den US-Truppen entwischte. Er selbst entkam jenem Hochsicherheitsgefängnis in Sanaa, in das ihn die Jemeniten nach seiner Rückkehr aus Afghanistan gesteckt hatten.

US-Drohnen töteten inzwischen seine wichtigsten Mitarbeiter: seinen Stellvertreter, den saudische Ex-Guantánamo-Häftling Said Ali al-Schihri, und den Hassprediger Anwar al-Awlaki, einen US-Bürger. Letzterer soll den US-Major Nidal Malik Hasan inspiriert haben, der 2009 in der texanischen Militärbasis Fort Hood 13 Kameraden erschoss - und dessen Militärstrafprozess am Dienstag begann.

Die Nähe des jemenitischen Al-Kaida-Chefs zum Gründervater der Al-Kaida könnte erklären, warum Al-Wahischi weiter am Terror gegen die USA festhält. Trotzdem bleibt unklar, wie ernst die Terrorbedrohung im und aus dem Jemen tatsächlich ist.

Offen ist auch, ob eine reaktivierte Kommandolinie vom Bin-Laden-Nachfolger Al-Sawahiri zum ehemaligen Bin-Laden-Gefährten im Jemen dieser Bedrohung eine operative Basis gibt. Denn nach den Ausspäh-Enthüllungen Edward Snowdens könnten die US-Geheimdienste auch ein Interesse daran haben, den abgelauschten Telefongesprächen zwischen Al-Kaida-Veteranen eine Bedeutung zuzumessen, die sie vielleicht nicht haben.