Griechisch-türkische Grenze Am Grenzfluss Evros entsteht eine neue Fluchtroute
Pythio/Sofiko (dpa) - Wie Schatten huschen die Gestalten an einem späten Abend im Mai über das Bahngleis zwischen dem griechischen Dorf Pythio und dem Evros, dem Grenzfluss zur Türkei.
Zuerst sind es zwei, dann vier und dann noch einmal vier junge Männer. Sie tragen leichte Jacken, Turnschuhe, kleine Rucksäcke. Sie wollen nicht sprechen, wollen nicht erkannt werden und haben es eilig. Einer sagt nur so viel, dass sie Palästinenser seien.
Am übernächsten Vormittag, zwei Dörfer weiter in Sofiko im Nordosten Griechenlands, marschieren Adel Ali (31) und Suleiman Chalid (30) sichtlich erschöpft auf der Landstraße in Richtung Landesinneres. „Wir sind wahnsinnig hungrig und durstig“, sagen die beiden Kurden aus dem Nordirak. Am Morgen sind sie aus der Uferböschung am Evros gekrochen. In der Nacht zuvor hatten sie in einem Schlauchboot über den gefährlichen Fluss gesetzt. „Vier Tage mussten wir drüben im Unterholz warten“, erzählt Adel Ali. Schlepper organisierten das Boot und gaben schließlich grünes Licht für die Abfahrt. Türkische Sicherheitskräfte hätten sie keine gesehen, geben Ali und Chalid zu Protokoll. Beide wollen nach Deutschland, wie sie sagen.
Auf einer Länge von fast 200 Kilometern bildet der Evros (türkisch: Meric, bulgarisch: Mariza) über weite Strecken die natürliche Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Nur nahe der westtürkischen Stadt Edirne verläuft die Grenze durch trockenes Land. 2012 hat Griechenland an dem zwölf Kilometer langen Abschnitt einen Stacheldrahtzaun errichtet. Die Flussgrenze ist weitaus schwieriger zu kontrollieren.
Im April war die Zahl der Flüchtlinge, die am Evros aufgegriffen wurden, überraschend auf 3986 gestiegen. Einen Monat zuvor waren es nur 1658 gewesen. Im Mai zeigte sich wiederum eine rückläufige Tendenz: in den ersten zwei Wochen des Monats wurden 660 Neuankömmlinge vermeldet. Die Dunkelziffer ist nicht abzuschätzen.
Die Palästinenser vom Bahndamm in Pythio erwecken den Eindruck, dass sie genau wussten, wo sie in jener Nacht hinwollten. Zahlungskräftige Migranten lotsen Schlepper entweder über die Adria nach Italien oder über die eigentlich gesperrte Balkanroute - auf Nebenwegen durch Albanien, Bosnien-Herzegowina oder Bulgarien und Rumänien - in die Mitte Europas.
Immer wieder meldet die griechische Polizei Razzien gegen Verstecke tief im Inneren des Landes. Nicht selten halten die Schlepper ihre „Kunden“ dort wie Geiseln fest, damit ihre Angehörigen Geld schicken. Auch in den Laderäumen von Lkws und in Minibussen entdeckt die Polizei häufig Flüchtlinge ohne Papiere.
Wer im Evros-Gebiet von der Polizei aufgegriffen wird, kommt in das nahegelegene Erstaufnahmelager Fylakio. In dem geschlossenen Camp erfolgt die Registrierung der Flüchtlinge. Ihnen werden die Fingerabdrücke abgenommen, und sie erhalten eine Bescheinigung, die sie als Asylbewerber ausweist. Die Prozedur soll nicht länger als 25 Tage dauern. Danach werden den Asylbewerbern offene Lager zugewiesen. Die meisten setzen dann ihre Reise in die Mitte Europas fort.
Im April war das auf 250 Bewohner angelegte Lager Fylakio heillos überfüllt. Mitte Mai sank die Zahl nach Angaben des Sprechers des UN-Hilfswerks UNHCR in Athen, Leo Dobbs, auf 169, unter ihnen 111 unbegleitete Minderjährige. Zwei Lehrerinnen bemühten sich, Jungen vor allem aus Pakistan ein paar Wörter Griechisch beizubringen. Der Unterricht sollte dazu beitragen, die öde Wartezeit im Lager zu verkürzen. Die Jugendlichen waren jedenfalls mit Spaß dabei.
Das Dorf Pythio ist einer der frequentierteren Übertrittspunkte am Evros. Vom Café „Charama“ am Bahngleis schweift der Blick über das Überschwemmungsland am Fluss, das zum Großteil militärisches Sperrgebiet ist. „Mir tun die kleinen Kinder leid“, sagt der Rentner Ioannis Kiourtidis. Wenn erschöpfte Familien mit Kindern aus dem Flussland auftauchen, findet sich stets jemand im Dorf, der ihnen Milch, Wasser, Brot und Kekse gibt.
Der 64-Jährige hat ein langes Berufsleben als Verkäufer in Stuttgart hinter sich. In den Sommermonaten kehrt er in den Heimatort seiner Frau zurück. 1974, als es infolge der türkischen Invasion in Nordzypern beinahe zum Krieg zwischen Griechenland und der Türkei gekommen wäre, leistete er dort seinen Militärdienst ab. Den Evros kennt er gut, schon von damals. Als Ortsansässiger darf er auch heute in der Sperrzone angeln. „Es ist ein gefährlicher Fluss“, sagt er. „An der Oberfläche ist er glatt und ungetrübt, aber von unten wühlt es. Da ziehen einen Strudel und Wirbel hinunter.“
Tatsächlich ertrinken immer wieder Flüchtlinge in den Fluten des Evros. Allein in diesem Jahr kamen nach offiziellen Angaben bereits zwölf Menschen im Evros um, neun waren es im gesamten Vorjahr. Wahrscheinlich gibt es auch hier eine Dunkelziffer. Die Leichen mancher Ertrunkener können nicht geborgen werden, weil türkische Wachtposten Warnschüsse über die Köpfe der griechischen Zivilschutzmitarbeiter abfeuern würden, erzählt man sich in Pythio.
Ioannis Kiourtidis wundert sich nicht darüber, dass Flüchtlinge immer wieder berichten, auf der türkischen Seite von den Sicherheitskräften unbehelligt geblieben zu sein. „Die halten die Hand auf fürs Wegschauen“, meint der Rentner. Beweisen lässt sich das freilich nicht.
In Athener Regierungskreisen verweist man wiederum darauf, dass das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen aus dem Jahr 2015 die Evros-Grenze nicht einschließt. Migranten, die über die Ostägäis nach Griechenland kommen und kein Asyl erhalten, werden demnach in die Türkei zurückgebracht. Da diese Bestimmung für die Evros-Region nicht gilt, habe Ankara wenig Motivation, Flüchtlinge von dieser Grenze auf ähnliche Weise fernzuhalten wie sie das an ihrer Ägäisküste tut, mutmaßt man in Athen.
Was auch immer dran sein mag: Funktioniert einmal eine Fluchtroute wie die über den Evros, dann lässt sie sich ausbauen. Sollten sich etwa die Konflikte in Nahost verschärfen, könnte sich der Weg über den Evros bald zu einem Hauptwanderungsweg entwickeln.