Analyse: Die Libyer streben den Neuanfang an

Übergangsrat verspricht Demokratie und Wahlen — doch die neuen Machthaber sind zerstritten.

Bengasi. Mit einer Feierstunde in Bengasi ist am Sonntag die libysche Revolution zu ihrem Ursprung zurückgekehrt. Es war in Bengasi, wo im Februar der Aufstand gegen den dort besonders verhassten Diktator Muammar al-Gaddafi ausbrach, nur wenige Tage nach dem Sturz des Präsidenten Husni Mubarak in Ägypten.

Nach dem Tod Gaddafis will Libyen in die Zukunft blicken. Der Übergangsrat, der sich Ende Februar unter Führung von Mustafa Abdul Dschalil in Bengasi gebildet hatte, legte Anfang August eine Verfassungserklärung vor. Das Dokument beinhaltet — neben dem Bekenntnis zum Islam als Staatsreligion und zu den Menschen- und Freiheitsrechten — den Fahrplan für den demokratischen Neuanfang. Die demokratisch legitimierte Machtstruktur soll im Frühjahr 2013 stehen.

Die Herausforderungen sind enorm. Libyen war bislang entweder Kolonie, eine autoritäre Monarchie oder — in den vergangenen 42 Jahren — die Spielwiese von Gaddafis despotischen und bizarren Herrschaftsstrukturen. An die Stelle der ohnehin schwachen Institutionen der Königsära traten unter Gaddafi diffuse „Volkskomitees“, praktisch herrschten aber nur der Diktator, sein Clan, seine Prätorianergarden und seine Geheimdienste.

Die neuen Machthaber müssen bereits handeln, bevor sie überhaupt ein demokratisches Mandat erlangen können. Dabei ist die provisorische Führungsmannschaft des Übergangsrates sehr heterogen. Sie vereint Dissidenten, die unter Gaddafi verfolgt wurden, ehemalige Gaddafi-Kader, die zu Beginn des Aufstands überliefen, und ehemals radikale Islamisten, die entscheidend zum bewaffneten Kampf gegen das Regime beitrugen. Unter ihnen und zwischen den regionalen Milizen bestehen massive Rivalitäten und Spannungen. Auch diese müssen ausgeglichen werden, bevor demokratische Institutionen geschaffen sind.

Wie schwierig das ist, zeigt das Gezerre um Gaddafis Leichnam. Der Übergangsrat in Tripolis und Bengasi ist bisher nicht dazu in der Lage, den tonangebenden Kräften in Misrata Weisungen für ein würdiges Begräbnis zu erteilen. Der Leichnam soll eigentlich den Angehörigen übergeben werden. Am Sonntag war die Leiche immer noch im Lager eines Kaufhauses ausgestellt, um dort von den Menschen begafft zu werden.