Wie starb der Diktator?

Die genauen Umstände der Erschießung von Muammar al-Gaddafi sind weiter unklar. Es kursieren gleich mehrere Versionen.

Tripolis. Die letzten Stunden und Minuten von Libyens früherem Machthaber Muammar al-Gaddafi taugten schon am Tag nach seinem Tod zur Legendenbildung. Hockte er am Ende wirklich im Abwasserkanal? Geriet er unter Feuer seiner eigenen Leute? Wurde er aus nächster Nähe erschossen?

Die genauen Umstände des Todes von Gaddafi lagen weiter im Nebel. Klar scheint zu sein, dass Nato-Jets einen Fahrzeug-Konvoi, in dem Gaddafi mit seinen letzten Getreuen fliehen wollte, vor der libyschen Stadt Sirte attackierten und stoppten; ein französischer Jet und eine unbemannte US-Drohne waren beteiligt. Gaddafi überlebte den Anriff und konnte wahrscheinlich flüchten. Er soll versucht haben, sich vor den anrückenden Rebellen zu verstecken — in einem Abwasser-Rohr. Dort holten ihn die Rebellen heraus. Aber was passierte anschließend?

Libyens Ministerpräsident Mahmud Dschibril erklärte, zuerst hätten die Milizen Gaddafi in Sirte gefangen genommen — lebendig. Dann hätten sie ihn auf einen Pritschenwagen gepackt und seien mit ihm Richtung Misrata gefahren, an die Küste. Auf dem Weg aber sei der Transport von Anhängern des langjährigen Diktators beschossen worden — Gaddafi sei schwer verletzt worden. So schwer, dass er kurz vor dem Krankenhaus von Misrata verblutete.

Zweifel an dieser Version hat unter anderem die „New York Times“. Genährt werden diese Zweifel durch ein wackliges Video des Fernsehsenders Al-Arabija: Dort ist Gaddafi nach seiner Festnahme in Sirte im blutgetränktem Hemd zu sehen — wankend, aber noch auf eigenen Beinen. Er scheint zu sprechen, seine rechte Hand zu bewegen. Auf späteren Bildern ist Gaddafi tot. Am Kopf ist mindestens eine Schusswunde zu sehen.

Haben seine Anhänger bei dem Überfall so genau gezielt? Wohl nicht, vermutet Al-Arabija und lieferte gestern eine brutale, aber plausibel klingende Erklärung — samt Quelle: Der ehemalige Diktator wurde nach seiner Festnahme mit voller Absicht getötet. Zu dem Schluss komme zumindest ein libyscher Arzt, der Gaddafis Leiche in Misrata obduzierte. Seine These: Gaddafi wurde aus kurzer Distanz in den Kopf und in den Bauch geschossen.

Die Kugeln könnten nach Angaben von Al-Dschasira sogar von seinen Getreuen selbst abgefeuert worden sein. „Einer von Muammar al-Gaddafis Leibwächtern hat ihm in die Brust geschossen“, zitiert der Sender einen Kämpfer. Andere Soldaten sprechen davon, dass der ehemalige Diktator schon verwundet war, als er aus dem Kanalrohr gezogen wurde.

Derweil will der Nationalrat heute Libyen offiziell für „befreit“ erklären. Innerhalb von 30 Tagen soll eine provisorische Regierung gebildet werden. Deren Aufgabe wird es sein, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen und freie, demokratische Wahlen vorzubereiten. Der Nationalrat werde außerdem sein Hauptquartier von Bengasi nach Tripolis verlegen.