Belfasts Friede ist aus Beton
Immer neue, immer höhere Mauern sichern das Nebeneinander von Protestanten und Katholiken. Versöhnung gibt es nicht. Robert McClenaghan, ehemaliger IRA-Kämpfer, begleitet Interessierte zu Schauplätzen des Konflikts.
Belfast. Zügig kommt er uns entgegen. Blasses Gesicht, Trainingsanzug, den Arm schon von fern freundlich ausgestreckt. Robert McClenaghan wirkt nicht wie ein ehemaliger Bombenleger. Dabei hat der 53-Jährige Sprengsätze für die IRA gezündet, im Untergrund gelebt, Freunde beerdigt, zwölf von 20 Jahren Haftstrafe verbüßt. Seine Geschichte steht für ein hässliches Kapitel, das Belfast am liebsten abhaken würde. Wenn nur die Erinnerungen nicht wären . . .
McClenaghan steht im Schatten des Divis Towers auf der Falls Road, dem Wahrzeichen des Nordirland-Konflikts. Vom Dach des Sozialbaus aus kontrollierten Scharfschützen der britischen Armee das katholische Viertel. Als die Menschen hier 1969 anfingen, gegen Diskriminierung durch Protestanten bei Job- und Wohnungsvergabe zu demonstrieren, eskalierte die Situation. „Statt uns vor den Brandbomben der Loyalisten zu schützen, feuerte die Polizei auf uns.“ Neun Jahre war McClenaghan damals, ein Gleichaltriger starb im Kugelhagel.
„Wir waren Kinder“, sagt er, „wir wussten gar nicht, was die Wörter Katholik oder Protestant bedeuten. Aber wir wussten, dass wir unsere eigene Armee brauchten, wenn die britische Polizei uns nicht schützen würde.“
1972, mit 13 Jahren, heuert McClenaghan bei der „Provisional IRA“ an. Die Schule schmeißt er, übernimmt mit 16 das IRA-Kommando über einen ganzen Stadtbezirk. Seine Aufgabe: Protestanten die Existenzgrundlage zu zerbomben. Als er 1978 gefasst und verurteilt wird, sagt er: „Knast oder Tod, andere Karriereoptionen gibt es in diesem Konflikt eben nicht.“
All das liegt heute hinter Robert McClenaghan. Er ist frei, wie mittlerweile alle IRA-Kämpfer der alten Garde. Nur was anstellen mit diesem kalten Frieden, in den sie entlassen worden sind?
Hohe Mauern trennen katholische und protestantische Wohngebiete, über 90 sind es mittlerweile. Die meisten der „Peace Lines“ stammen nicht einmal aus den gefährlichen Konfliktjahren, sondern sind neu. Und sie wachsen und wachsen, wie an der Howard Street. Auf den Beton haben Anwohner eine Stahlwand gesetzt und auf die Stahlwand noch ein Drahtgitter. Ihre Zimmer liegen im ewigen Schatten, doch nur so fühlen sie sich sicher: „Es fliegen ja immer noch Brandsätze“, erklärt McClenaghan.
Er begleitet heute politisch Interessierte über die Falls Road, erklärt ihnen seine Version des Nordirland-Konflikts. Ständig blickt man dabei in Straßen, die einfach vor einer Wand enden. Selbst der Friedhof hat eine, tief in der Erde: Katholiken und Protestanten wollen sich auch im Tod nicht näher kommen.
Deutschen mag das Herz beim Anblick all dieser frischen Mauern schwer werden, doch 70 Prozent der Belfaster halten sie für absolut notwendig. Hinderlich? Wieso? Wozu sollte oder müsste man nach „drüben“? Katholiken, Protestanten — sie haben alles, was sie brauchen, auf ihrer jeweils eigenen Seite.
Doch McClenaghan kooperiert neuerdings mit Leuten von drüben, ebenfalls Ex-Häftlinge, seine ärgsten Widersacher von einst. Auch sie leiten politische Touren, aber auf ihrer Seite. Also bringt der Ex-IRA-Mann die Touristen nach seinen 90 Minuten zum „Checkpoint Charlie“ (so heißt im Belfaster Slang eine Straßensperre auf der Springfield Road) und übergibt sie an die Protestanten — für Teil zwei der Wahrheit. Wäre es nicht Zeit für gemeinsame Führungen? McClenaghan schaut entsetzt: „Wie sollten wir uns denn auf eine Version der Geschichte einigen? Objektivität gibt es hier nicht.“
Nichts würde das brüchige Nebeneinander mehr gefährden, als die Mauern einreißen zu wollen. Annäherung funktioniert in Belfast nur auf Distanz, der Alltag nicht durch Vergessen oder Verzeihen, sondern durch Integration der alten Wunden. So ist der ehemalige IRA-Aktivist ein gefragter Zeitzeuge. Schülern erzählt er von seiner Einzelhaft, von Käfigen und winzigen Zellen auf Gefängnisschiffen. Eine ist im Museum an der Falls Road aufgestellt. „Wiederholt nicht unsere Fehler“, predigt er den Kindern. Viele schweigen dann. Manche aber sagen: „Ihr hattet wenigstens Waffen, wir haben nur Spielzeug.“
Draußen kann man Mauern bauen, aber Gefühle lassen sich nur schlecht wegzementieren. Niemand weiß das besser als McClenaghan: „Mit dem Friedensabkommen musste ich alle alten IRA-Ideale aufgeben, das war schwer. Ich war ja hundertprozentig überzeugt, dass Töten berechtigt ist.“
Selbstzweifel, Krisen, politische Debatten hat er bewältigt. Seelenfrieden aber ist ihm verwehrt, solange die Toten noch Fragen aufwerfen. Zum Beispiel McClenaghans Großvater. 1971 wurde er getötet. „Ich will wissen, ob es ein Auftragsmord war, und ob die Drahtzieher heute noch im britischen Polizei- und Militärdienst hohe Funktionen bekleiden.“ Also ist er über seinen Schatten gesprungen und hat sich mit dem Sohn des Mörders getroffen. Eine Antwort aber hat er nicht bekommen.
McClenaghan bereut das Bombenlegen nicht. „Wir hatten ja keine Alternative“, sagt er. „Heute dürfen wir uns engagieren, das ist kein Ausverkauf unserer Ideale, sondern ein guter Deal.“ Also mischt er mit — beim Mieterverband, bei der Beratung für Sozialhilfeempfänger. Die Not in Nord-Belfast ist so groß, dass selbst Protestanten von drüben in die Sprechstunden an der Falls Road kommen.
Ihn freut das. Denn eine Konstante in seinem Leben ist die Hoffnung darauf, dass Irland eines Tages wiedervereinigt und unabhängig vom Königreich ist. Das funktioniert nicht mit Bomben, sondern bei einer Volksabstimmung nur mit den Stimmen von jenseits der Mauer.
Gut möglich, dass McClenaghan bei den mühsamen Schritten des Friedens die Verwirklichung dieses Traums nicht mehr erlebt. Einen Durchbruch konnte man aber kürzlich im Alexandra Park vorsichtig bejubeln: Hier hat die Endlos-Mauer zwischen Katholiken und Protestanten ein Tor verpasst bekommen. Wer will, schreitet jetzt einfach auf die andere Seite — ohne Umweg.