#BrexitOrNot Brexit: Die Briten im Zustand von Schrödingers Katze

Wenn Großbritannien am Freitagmorgen aufwacht, befindet sich das Land in einem nachrichtlichen Schwebezustand: Bleibt das Land in der EU oder tritt es aus?

Foto: Wienke, Dagmar

London/Berlin. So wie der Freitagmorgen fühlt sich theoretische Physik in der Wirklichkeit an, wenn instabile Atomkerne sich in einem paradoxen Überlagerungszustand befinden, wenn sie gleichzeitig zerfallen und noch nicht zerfallen sind. Haben die Briten für den Brexit gestimmt? Oder für den Verbleib in der EU? Das werden sie erst erfahren, wenn die Stimmen im Laufe des Vormittags ausgezählt sind. Den unklar verwaschenen Zustand bis dahin hat 1935 der österreichische Physiker Erwin Schrödinger (1887-1961) in einem Aufsatz über „Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik“ beschrieben. Bekannter ist das Paradoxon als „Schrödingers Katze“.

Your country needs you vote leave today" steht auf dem Titel der britischen Tageszeitung "Daily Express". Wie die Briten entschieden haben, wissen wir am Freitagmorgen.

Foto: Michael Kappeler

Das (rein theoretische) Experiment Schrödingers geht so: Eine Katze wird mit einer „Höllenmaschine“ in eine Stahlkammer gesperrt. In einem Röhrchen befindet sich eine winzige Menge einer radioaktiver Substanz, „so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines“. Zerfällt ein Atom, löst das einen Mechanismus aus, bei dem ein Hämmerchen einen Kolben mit Blausäure zertrümmert; dann ist die Katze tot. Ob der Fall eingetreten ist, weiß man jedoch erst, wenn man nachsieht. Bis dahin befindet sich das System in der Situation, „dass in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind“.

Davon abgesehen, dass Schrödinger offenbar ein gestörtes Verhältnis zu Katzen hatte, beschreibt sein Paradoxon einen Zustand Großbritanniens, der innerhalb der Europäischen Union ganz unabhängig des Ausgangs nicht weiter hingenommen werden kann. In Großbritannien hängt der Mitgliedschafts-Status nun seit mehr als 40 Jahren in der Zerfallsschwebe zwischen „schon tot“ und „noch nicht tot“. Als 1957 die EWG als Vorläufer der EU gegründet wurde, mochte das Land sich Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden nicht anschließen. Fortan lag es wirtschaftlich niedergehend in den Kater-Schmerzen seines verlorenen Empires.

In den 60er Jahre überlegte das Vereinigte Königreich es sich schließlich anders, scheiterte mit seiner verspäteten Einsicht jedoch bis 1975 zunächst am Widerstand der Franzosen. Seit Großbritannien der Gemeinschaft der europäischen Staaten beitrat, findet es als spät Hinzugekommener dort seinen Platz nicht. Statt an der Gestaltung Europas ernsthaft mitzuwirken, erstreitet das Land sich Extra-Wurst um Extra-Wurst.

Entsprechend schwankt seine Außen-Wahrnehmung zwischen einer Heimat für betrunkene Hooligans und blasshäutige Handtuch-auf-den-Liegestuhl-Werfer, der coolsten Hauptstadt Europas im Mutterland der Pop-Kultur auf der anderen Seite sowie einem imperialen Museum mit einer leicht spleenigen Königsfamilie an Spitze und Oldtimer-Taxis im Linksverkehr. Es sagt viel über Großbritannien, dass etliche Briten in dem Foto von Joel Goodman (siehe oben) vom frühen Neujahrsmorgen 2016 in Manchester ein nahezu ikonisches Sittengemälde ihres Landes erkannten und es zigtausendfach im Internet teilten.

In dem betrunken auf der Straße liegenden Mann, der nach seinem Bier greift, sahen sie eine britische Gegenwarts-Variante von Michelangelos Gemälden aus der sixtinischen Kapelle. Die junge Frau im eleganten roten Kleid, deren randalierender Begleiter von der Polizei ruhiggestellt wird, fand das Foto in der „Manchester Evening News“ vom öffentlichen Delirium der Nacht „extrem lustig“. Und die Polizei lobte Goodman, denn sein Foto habe „auf großartige Weise eine normale Nacht der Cops“ eingefangen. Wahrscheinlich fühlte sich der Kater der Beteiligten danach so ähnlich an wie der heutige Schrödinger-Morgen für die ganze Insel: Man weiß nicht so recht, was man getan hat, aber man ahnt, es wird Konsequenzen haben.

Ob Premierminister David Cameron den Tag übersteht oder der Ex-Bürgermeister von London, Boris Johnson, als eine britische Donald-Trump-Ausgabe den Job übernimmt — in Brüssel wird die Extrawurst-Braterei für Großbritannien dicht gemacht werden. Die EU kann es sich nicht leisten, das britische Referendum zum lohnenden Beispiel für Populisten und Separatisten in weiteren Staaten werden zu lassen. Sie wird im Gegenteil alles daran setzen, potentielle Nachahmer wirksam abzuschrecken.

Und langsam ahnen die Briten, dass das Ergebnis des Referendums die Zerfallsschwebe des Landes gar nicht beenden wird, sondern unabhängig des Ausgangs sich Meer von Fragen darüber auftun wird, wie es denn nun weitergehen soll mit einem tief gespaltenen Land — das erst einmal erkennen muss, wo es eigentlich steht. Mit den Worten von Katzen-Feind Schrödinger: „Es ist ein Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Photographie und einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden.“

Joel Goodman schoss am Neujahrsmorgen dieses Bild in den Straßen von Manchester. Es wurde im Internet tausendfach geteilt. Foto: Screenshot