#BrexitOrNot Brexit-Referendum: Verlassen die Briten die EU?
London (dpa) - Großbritannien und die Europäische Union (EU) stehen vor einer historischen Zäsur. Nach einem erbittert geführten Wahlkampf wird an diesem Freitag klar sein, ob das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleibt oder der Gemeinschaft nach 43 Jahren den Rücken kehren wird.
Trotz vieler Warnungen aus der ganzen Welt vor einem Brexit - also einem EU-Austritt - ist der Ausgang des Referendums völlig offen.
Insgesamt hatten sich rund 46,5 Millionen Wähler für die Stimmabgabe registriert. Umfragen sagten zumeist ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen beiden Lagern voraus. Die letzten - noch am Wahltag veröffentlichten - Befragungen sahen das „Remain“-Lager, das in der EU bleiben will, knapp in Führung. Viele Wähler waren allerdings noch kurz vor der Abstimmung unentschlossen.
Die Wahllokale öffneten im ganzen Land um 8.00 Uhr (MESZ). Nach heftigen Gewittern und Starkregen in der Nacht zum Donnerstag mussten mehrere Wahllokale im Südwesten Londons geschlossen und verlegt worden. Trotz des schlechten Wetters bildeten sich zum Teil lange Schlangen vor Wahllokalen.
Die Auszählung der Stimmen in den 382 Wahlkreisen sollte unmittelbar nach Schließung der Wahllokale um 23.00 Uhr (MESZ) beginnen. Prognosen und Hochrechnungen sollte es nicht geben. Allerdings kündigte das Meinungsforschungsinstitut Yougov eine Nachwahlbefragung an, die sofort nach Ende der Abstimmung veröffentlicht werden sollte. Diese sollte sich aber nur auf eine vergleichsweise kleine Stichprobe stützen - qualitativ also nicht mit einer echten Prognose vergleichbar sein.
Erste Auszählungsergebnisse wurden in den frühen Morgenstunden des Freitags erwartet. Die britische Nachrichtenagentur PA ging davon aus, dass bis 6.00 Uhr (MESZ) ein belastbares Ergebnis vorliegen könnte. Der Sender BBC rechnete damit, dass - je nachdem, wie eng das Rennen tatsächlich sein würde - zwischen 5.00 und 8.00 Uhr (MESZ) Klarheit über den Ausgang des Referendums herrschen könnte.
Vom Ausgang des Referendums könnte auch das politische Schicksal des britischen Premierministers David Cameron abhängen. Es wurde erwartet, dass er bereits kurz nach Verkündung des Wahlergebnisses in Downing Street 10 - seinem Amtssitz - vor die Presse treten würde. Ein Sieg des Brexit-Lagers würde eine schwere Niederlage für ihn bedeuten. Ob er danach weiterregieren könnte, galt als fraglich.
Die letzte Erhebung des Instituts YouGov vor dem Referendum sah das Pro-EU-Lager mit 51 zu 49 Prozent vorne. „Die derzeitigen Umfragen legen ein zu knappes Rennen nahe, als dass eine Vorhersage möglich ist“, meinte das Institut. Aber es gebe einen neuen „Trend zum Drinbleiben“. Dies bestätige Beobachtungen bei anderen Unabhängigkeitsvoten in der Vergangenheit: Kurz vor dem Urnengang gebe es eine Bewegung der Wähler zum Erhalt des Status quo.
Premier Cameron zeigte sich bei der Stimmabgabe wortkarg. „Guten Morgen“ war das Einzige, was er sagte, als er gemeinsam mit seiner Ehefrau Samantha in der Nähe von Downing Street 10 zur Wahlurne ging. Labour-Chef Jeremy Corbyn gab sich demonstrativ zuversichtlich. „Die Buchmacher liegen meistens richtig“, meinte er mit Blick auf die Wetten, die auf einen Sieg des Pro-EU-Lagers setzten. Sie hatten die Quoten am Donnerstag nochmals in Richtung EU-Verbleib korrigiert.
Auch Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen britischen Ukip-Partei und einer der Wortführer des Austrittslagers, zeigte sich siegessicher. Das Brexit-Lager habe eine „sehr starke Chance“, sagte er vor seinem Haus in der Grafschaft Kent der Nachrichtenagentur PA.
Ein Brexit würde die EU in die vermutlich schwerste Krise ihrer Geschichte stürzen. Zahlreiche europäische Politiker hatten die Briten vor einem Austritt gewarnt. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und andere Institutionen sagten wirtschaftliche Turbulenzen im Falle eines Brexit voraus.
In der EU mehren sich die Stimmen, die unabhängig vom Ausgang des Referendums dafür plädieren, grundsätzlich über die Europäische Union nachzudenken. Ein „Weiter so“ könne es nicht geben, hieß es am Donnerstag über die Parteigrenzen hinweg.
Auch Bundespräsident Joachim Gauck warnte davor, nach dem Referendum einfach zur Tagesordnung überzugehen. „Wir sollten aus der Krise Lehren ziehen und weiter diskutieren, wie wir in Europa leben wollen“, sagte Gauck bei einem Besuch in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. „Das Beste an der Debatte über den sogenannten Brexit war die Debatte selbst“, sagte Gauck. Sie habe Unmut über die Europäische Union ans Licht gebracht, der zuvor im Verborgenen geschwelt habe.
An den Finanzmärkten herrschte am Donnerstag Optimismus, dass sich die Briten für einen Verbleib in der EU aussprechen. Am Tag der Volksabstimmung stand der Dax den nunmehr fünften Tag in Folge deutlich in der Gewinnzone, ebenso der EuroStoxx 50. Auch für den Londoner FTSE-100-Index ging es nach oben. „Der Markt nimmt den Sieg der Brexit-Gegner vorweg“, sagte Analyst Jochen Stanzl von CMC Markets. An den Devisenmärkten wurde ebenfalls mit einem Sieg des Pro-EU-Lagers gerechnet: Das Pfund verzeichnete ein deutliches Kurs-Plus. Die Währung kletterte im Tagesverlauf über die Marke von 1,48 Dollar; so teuer war die britische Währung seit Dezember 2015 nicht mehr.
Finanzexperten gehen davon aus, dass das Pfund bei einer Mehrheit für den EU-Austritt dramatisch abstürzen könnte. EU-Politiker wiederum befürchten, dass ein Brexit Austrittswünsche in anderen Ländern beflügeln dürfte - und damit zusätzliche Probleme für die EU bringt.