Brüsseler Pressekonferenz „Die Welt braucht mehr Europa“
Brüssel · Ursula von der Leyen hat in Brüssel ihren ersten großen öffentlichen Auftritt als designierte EU-Kommissionspräsidentin. Und gibt einen Vorgeschmack auf die kommenden fünf Jahre.
Nach einer Stunde und sechsundvierzig Minuten sagt sie dann doch: „Ich muss leider los.“ Dutzende Fragen hat Ursula von der Leyen beantwortet, ihr Team für die nächste EU-Kommission vorgestellt, die großen Linien für die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren aufgezeigt. Dann zieht sich die 60-Jährige zurück durch die hohe Tür in die Kulisse des Pressesaals im Kommissionssitz Berlaymont. Nur eines noch: „Wir kommen wieder.“
Es ist ein bemerkenswerter Auftritt, diese erste Brüsseler Pressekonferenz nach von der Leyens Wahl zur neuen Präsidentin der Europäischen Kommission im Juli. Auch weil die CDU-Politikerin im Stil so anders ist als der oft schnippische, knorrige Amtsinhaber Jean-Claude Juncker, der solchen öffentlichen Befragungen gern aus dem Weg ging. Von der Leyen spricht selten sehr konkret, aber scheinbar unermüdlich und oft mit großer Geste, wenn sie Sätze sagt wie: „Ich will ein Kollegium, das sich einsetzt, das Europa versteht, das zuhört, was die Europäer wollen.“ Oder auch einfach: „Die Welt braucht mehr Europa.“
Wochenlang saß die ehemalige Bundesverteidigungsministerin im Obergeschoss eines Bürogebäudes gegenüber, arbeitete sich in die vielen EU-Themen ein und brütete über ihrem Personalpaket mit 26 Kommissaren, mit dem sie ab 1. November starten will. Wochenlang drang nichts Wesentliches nach außen - was in Brüssel ungewöhnlich ist. Am Wochenende dann zirkulierten Listen mit Geheimtipps auf Twitter und in Hinterzimmern. Am Ende stimmte davon: reichlich wenig. Die neue Kommissionschefin hat ihr Personalpuzzle anders gelöst als viele dachten.
Die EU-Staats- und Regierungschef hatten wichtige Punkte schon vorgegeben. Neben der Präsidentin selbst hatten sie schon den neuen EU-Außenbeauftragten bestimmt - den spanischen Sozialisten Josep Borrell. Dann waren da noch der Sozialdemokrat Frans Timmermans und die Liberale Margrethe Vestager, die beide selbst an die Spitze der Kommission wollten und mit der Zusage einer wichtigen künftigen Rolle bei Laune gehalten wurden. Und schließlich die Ansage, dass Osteuropa stärker bedacht werden solle.
Von der Leyens Lösung ist ein Dreiergespann aus „exekutiven“ Vizepräsidenten, die thematisch besonderes Gewicht haben sollen. Timmermans, schon jetzt Erster Vizepräsident unter Juncker, soll von der Leyens Topthema managen: den „Green Deal“ für ein klimafreundliches Europa - eine Wahl, die bei Umweltverbänden durchaus auf Wohlwollen trifft.
Vestager bekommt das Portfolio Digitales, das quasi alles beinhaltet von der sozialverträglichen Umstellung der Industrie auf Robotertechnik bis zum Cyberwar. Darüber hinaus soll die Dänin das Thema behalten, mit dem sie in der Juncker-Kommission Furore machte: Wettbewerb, also der Kampf gegen übermächtige Firmenkonglomerate, die auf Kosten von Verbrauchern Preise und Bedingungen diktieren.
Der dritte im Bunde ist der Lette Valdis Dombrovskis, auch er schon bisher Vizepräsident und nun ebenfalls ausgestattet mit dem Etikett „exekutiv“ und seinem Titel nach zuständig für „eine Wirtschaft, die für die Menschen funktioniert“. Mit dem Balten holt von der Leyen einen Kandidaten aus eben jenen neuen EU-Ländern im Osten in die erste Reihe. Von dort kommen auch drei weitere „einfache“ Vizepräsidenten: der Slowake Maros Sefcovic, die Tschechin Vera Jourova und die Kroatin Dubravka Suica.
Die kritischsten Fragen kommen zu Jourova, weil nun ausgerechnet eine Parteifreundin des wegen Korruptionsvorwürfen umstrittenen Ministerpräsidenten Andrej Babis für „Werte und Transparenz“ der EU zuständig sein soll. Zweifel gibt es auch am designierten polnischen Kommissar Janusz Wojciechowski, der - aus einem Agrarland mit enormen EU-Subventionen kommend - das Thema Landwirtschaft bekommen soll.
Doch von der Leyen wehrt alles ab. Bei allen bisherigen Kommissaren, die in neuer Funktion wieder antreten, betont sie deren ausgezeichnete, ja brillante Arbeit - auch bei Jourova. Bei allen neuen Kollegen aus Ländern wie Polen, Ungarn oder Rumänien, die oft mit Brüssel über Kreuz liegen, betont sie: „Sie sind jetzt Europäer, die in erster Linie im europäischem Interesse handeln.“
Ob das Europaparlament bei der Bestätigung der Kommission noch Einwände erheben könnte, lässt sie offen. „Jeder Kommissar, jeder Vizepräsident muss überzeugen“, sagt die künftige Chefin nur.
Das gilt, wenn es nach ihr geht, auch für den Kontakt mit echten Menschen - mit den gut 500 Millionen Europäern weit weg vom Brüsseler Europaviertel. Jeder Kommissar soll in den nächsten zweieinhalb Jahren jedes der künftig noch 27 EU-Länder bereisen, und zwar nicht nur die Hauptstädte, sagt von der Leyen.
Die neuen Job-Titel, die alle ein bisschen nach Gute-Kita-Gesetz klingen - „Vizepräsident für ein stärkeres Europa in der Welt“ oder „Vizepräsident zum Schutz der europäischen Lebensweise“ -, sollen wohl ebenfalls Volksnähe signalisieren. Und natürlich Bürokratieabbau, das vielleicht heißeste Thema beim Bürgerfrust mit Europa, will die neue Präsidentin anpacken. Für jedes neue EU-Gesetz soll eines gestrichen werden, verspricht sie.
Als Symbol für den Abschied vom Aktenstaub kündigt sie an, dass die neue Kommission vom ersten Tag an „papierlos“ tagen wird, also voll digitalisiert. Nur diesmal noch macht sie eine Ausnahme: Das Tableau mit den Namen ihrer Kommissare lässt sie ganz altmodisch auf Hochglanz gedruckt im Pressesaal verteilen.