Tausende bei Wahlkampfendspurt Erdogan-Herausforderer Ince verspricht Erneuerung der Türkei
Istanbul (dpa) - Einen Tag vor den Wahlen in der Türkei hat der Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP eine grundlegende Erneuerung des Landes versprochen. „Morgen wird es eine ganz andere Türkei geben“, sagte Muharrem Ince vor Hunderttausenden Menschen in Istanbul.
Präsident Recep Tayyip Erdogan verwies bei fünf Wahlkampfveranstaltungen ebenfalls in Istanbul auf die Entwicklung des Landes in den vergangenen 16 Jahren AKP-Regierung. Er versprach, die Türkei werde unter seiner Führung unter die zehn meistentwickelten Länder der Welt aufsteigen.
Einen Tag vor den Präsidenten- und Parlamentswahlen in der Türkei trat am Samstagabend (18.00 Uhr Ortszeit/17.00 Uhr MESZ) landesweit ein Wahlkampfverbot in Kraft. An diesem Sonntag sind fast 60 Millionen Türken aufgerufen, ein neues Parlament und einen Präsidenten zu wählen. Mit der Wahl wird die Einführung des von Erdogan vorangetriebenen Präsidialsystems abgeschlossen.
Umfragen zufolge geht Erdogan - der Vorsitzender und Kandidat der islamisch-konservativen AKP ist - als Favorit in die Präsidentenwahl. Eine absolute Mehrheit in der ersten Wahlrunde könnte er aber verfehlen. Dann müsste er am 8. Juli gegen den Zweitplatzierten in eine Stichwahl. Umfragen sahen Ince auf dem zweiten Rang, gefolgt von Meral Aksener von der national-konservativen Iyi-Partei und Selahattin Demirtas von der pro-kurdischen HDP.
Demirtas wandte sich am Samstag im Staatssender TRT - der Kandidaten Sendezeit einräumen muss - an die Wähler. Wie zuvor auch Ince kündigte Demirtas in der im Gefängnis im westtürkischen Edirne aufgezeichneten Ansprache an, den Ausnahmezustand aufzuheben und die Einführung von Erdogans Präsidialsystem wieder rückgängig zu machen. Dafür wäre allerdings eine erneute Verfassungsänderung notwendig. Der nächste Präsident wird zugleich Staats- und Regierungschef und ist mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet.
Erdogan erteilte Forderungen nach einer Freilassung von Demirtas erneut eine Absage. Zugleich griff er die CHP an, der er die Regierungsfähigkeit absprach. „Würden Sie ihren Laden einem Lehrling anvertrauen?“, fragte er mit Blick auf die Oppositionspartei. „CHP bedeutet Dürre. CHP ist Luftverschmutzung. CHP ist Müll.“
Ince kündigte an, die Justiz unabhängig zu machen und den Beitrittsprozess mit der EU voranzutreiben. „Sofort, nachdem ich gewählt werde, werde ich die Hauptstädte in Europa besuchen“, sagte er. „Wir werden die Verhandlungen mit der Europäischen Union beschleunigen.“ Konsequenzen könnte ein Wahlerfolg Inces für die mehr als 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei haben: Ince sagte, er wolle auf ihre Rückführung nach Syrien hinarbeiten.
Der letzte große Auftritt Inces vor dem Wahlkampfende am Samstagabend zog massenhaft Menschen an. Der Kandidat selber sprach von fünf Millionen Besuchern auf dem Versammlungsplatz in Maltepe. Augenzeugen hielten diese Zahl für zu hoch. Der Staatssender TRT berichtete trotz des Massenauflaufs nicht über den Auftritt, sondern schaltete zu Wahlkampfveranstaltungen Erdogans in Istanbul.
Ince nannte die regierungsnahen Medien in der Türkei „kriecherisch und parteiisch“ und machte Erdogan dafür verantwortlich, dass sie seine Versammlung nicht übertrugen. „Wenn ein faschistischer Kopf wie Erdogan fünf Millionen sieht, dann sagt er, sie sollen nicht senden. Deshalb sagt er es, aus Angst, aus Angst!“, rief Ince. „Das sind seine letzten Zuckungen!“ Die Verantwortlichen bei TRT werde er „vor Gericht stellen“. Mehr als 500 000 Menschen folgten der Übertragung der Versammlung auf Inces Twitter-Konto.
Aksener hatte ihre Kundgebungen am Samstag wegen des Todes eines Parteifreundes gestrichen. Demirtas ist seit November 2016 unter Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.
Das Wahlbündnis der Regierung unter Führung der AKP dürfte als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl hervorgehen. Sollte die HDP allerdings den Sprung über die Zehnprozenthürde schaffen, könnte das AKP-Bündnis die absolute Mehrheit im Parlament verlieren.
Trotz der Proteste von Bundesregierung und OSZE sind die türkischen Behörden am Samstag bei ihrem Einreiseverbot für den deutschen Wahlbeobachter und Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko geblieben. Der Linken-Politiker sagte der Deutschen Presse-Agentur am Samstagnachmittag, dass er sich weiterhin bereit halte. „Ich halte es aber für unwahrscheinlich, dass ich an diesem Wochenende noch einreisen kann.“ Auch das Auswärtige Amt bestätigte, dass es keinen neuen Stand in dem Fall gebe.