Kritik an Notstandsdekreten Großkundgebung in Istanbul: Opposition fordert Gerechtigkeit
Istanbul (dpa) - Zum Abschluss eines mehr als 400 Kilometer langen Protestmarsches hat der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu vor mehr als hunderttausend Demonstranten eine Aufhebung des Ausnahmezustands in seinem Land gefordert.
„Wir wollen, dass alle antidemokratischen Praktiken enden“, sagte Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, am Sonntag bei der Kundgebung in Istanbul. Dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan warf er vor, die Justiz zu beeinflussen.
Die Gerichte würden ihre Entscheidungen „auf Anweisung des Palastes treffen“, sagte Kilicdaroglu vor jubelnden Anhängern in Anspielung auf Erdogans Präsidentenpalast. „Wir sind marschiert, für die Gerechtigkeit, die es hier nicht gibt.“ Die Demonstranten skandierten „Recht, Justiz, Gerechtigkeit“ und schwenkten türkische Fahnen.
Nach Angaben regierungskritischer Medien nahmen an der Kundgebung mehr als hunderttausend Menschen teil. Der CHP-Abgeordnete Özgür Özel bezifferte die Teilnehmerzahl nach Angaben des Senders CNN Türk auf 1,6 Millionen. Die Veranstaltung fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. CNN Türk berichtete unter Berufung auf den Gouverneur von Istanbul, 15 000 Polizisten seien im Einsatz gewesen.
Kilicdaroglu kritisierte die Notstandsdekrete und sagte: „Wir sind für die im Gefängnis sitzenden Abgeordneten marschiert, für die eingesperrten Journalisten (...) Wir sind für die Dozenten marschiert, die von den Universitäten geworfen wurden.“ Solche Maßnahmen habe man auch in Hitlerdeutschland durchgeführt. Doch die Menschen sollten keine Angst haben. „Wir werden mutig sein“.
Kilicdaroglu hatte den „Gerechtigkeitsmarsch“ von Ankara nach Istanbul am 15. Juni im Güvenpark der Hauptstadt gestartet. Anlass war die Verurteilung des CHP-Abgeordneten Enis Berberoglu zu 25 Jahren Haft wegen Geheimnisverrats. Der Marsch gewann zunehmend an Zulauf, zeitweise marschierten Tausende mit Kilicdaroglu Richtung Istanbul. Erdogan hatte den Protestmarsch scharf kritisiert und Kilicdaroglu vorgeworfen, mit Terrororganisationen zusammenzuarbeiten.
Der CHP-Chef und seine Unterstützer kritisieren die Politik Erdogans und der islamisch-konservativen AKP-Regierung und vor allem die Maßnahmen nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Die türkische Führung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Putsch verantwortlich. Unter dem von Erdogan ausgerufenen Ausnahmezustand wurden Zehntausende vermeintliche Gülen-Anhänger verhaftet, zahlreiche Medien geschlossen und mehr als 100 000 Staatsbedienstete entlassen oder suspendiert.