Interview Militärexperte Glatz zu den Beschlüssen des Nato-Gipfels

Berlin. Jeweils ein internationales gemischtes Bataillon, also 1000 Soldaten, nach Estland, Lettland, Litauen und Polen - das beschloss am Wochenende der Nato-Gipfel in Warschau. Reicht das gegen die russische Bedrohung aus, wollte unser Berliner Korrespondent Werner Kolhoff von dem früheren Bundeswehrgeneral und jetzigen Forscher der "Stiftung Wissenschaft und Politik", Oberstleutnant a.D. Rainer Glatz, wissen.

Rainer Glatz, Bundeswehrgeneral a.D.

Foto: Patrick Pleul

Würden Sie sich als Balte oder Pole nach dem Nato-Gipfel sicherer fühlen als vorher?

Glatz: Ja, weil ich zwei Botschaften erkenne: Die erste ist, dass man gemeinsam und geschlossen auf die Bedrohungsängste in Polen und im Baltikum reagiert und sie aufnimmt. Und zweitens, dass es die Bereitschaft der größeren Nationen gibt, sich an multinationalen Bataillonen zu beteiligen. Das gibt den kleinen Nato-Mitgliedsstaaten im Osten das klare Zeichen: Wenn ihr angegriffen werdet, sind wir da.

Aber wäre die Nato militärisch überhaupt in der Lage, einen russischen Angriff auf das Baltikum abzuwehren?

Glatz: Wenn man das rein taktisch und operativ betrachtet, könnte man zu dem Schluss kommen, dass das kaum gelingen kann. Die russischen Truppen in der Region sind weit überlegen. Aber die Nato ist eine strategische Allianz, und das weiß auch jeder Militärplaner in Russland, wenn er seine Risikokalkulation macht. Das politische Signal ist in Moskau angekommen, ganz unabhängig von militärischen Größenordnungen. Und es heißt: Die Nato ist bereit, das Territorium dieser Staaten zu verteidigen.

Hat der Gipfel die Spannung mit Russland zusätzlich verschärft oder trägt er zu Entspannung bei?

Glatz: Das werden die nächsten Wochen zeigen. Insbesondere die Sitzung des Nato-Russland-Rates am Mittwoch. Ich glaube allerdings nicht, dass die russischen Militärs ihre Rhetorik der angeblichen Bedrohung durch die Nato jetzt verstärken werden. Dazu eignet sich das Warschauer Kommuniqué nämlich wahrlich nicht.

Die geplante Raketenabwehr wird in Moskau als viel provokativer empfunden. Ist nicht angesichts des Atomabkommens mit dem Iran die Argumentation der Nato in der Tat schwach, das richte sich gegen Angriffe aus dem Iran?

Glatz: Nein, denn im Iran und in anderen Ländern geht die Entwicklung von Trägertechnologien ungehemmt weiter, und die ist von dem Atomabkommen nicht erfasst. Es gibt also diese Bedrohung Europas. Außerdem ist das Raketenabwehrsystem der Nato von seinem ganzen technischen Design her gar nicht auf russische Nuklearraketen ausgerichtet. Es stellt also überhaupt keine Bedrohung für die Zweitschlagfähigkeit Russlands dar. Das ist Moskau auch immer wieder klar gemacht worden.

Was kann die Nato ihrerseits tun, um das Verhältnis mit Russland wieder zu verbessern?

Glatz: Sie muss versuchen, die Dialogkanäle weiter offen zu halten. Dazu muss freilich auf der anderen Seite auch jemand vorhanden sein, der substantiell zu reden bereit ist. Das habe ich bisher in ausgeprägter Form in Russland nicht feststellen können. Aber beide Seiten kommen am Gespräch sowieso nicht vorbei, denn es gibt viele Probleme in der Welt - ich nenne nur den Anti-Terrorkampf - bei dem sie zusammenarbeiten müssen. Und aus deutscher Sicht gilt sowieso: Russland liegt nun mal geografisch da, wo es liegt. Wir werden uns mit Russland auseinandersetzen müssen.

Sie waren mitverantwortlich für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr. Die Nato setzt ihre Ausbildungsmission dort mit unverminderter Stärke fort. Wird Afghanistan für den Westen zu einem Dauereinsatz werden?

Glatz: Das könnte so sein. Den Afghanen war eigentlich eine Übergangsdekade von 2014 bis 2024 versprochen worden, und in der sollte das militärische Engagement des Westens zugunsten des zivilen Wiederaufbaus immer weiter zurückgefahren werden. Wir sehen aber, dass die Sicherheitsrisiken wieder stark zugenommen haben. Die Nato hat gut daran getan, ihre Zeitplanung daran anzupassen. Ich rechne damit, dass allein der jetzige Einsatz "Resolute Support" bis 2020 dauern wird. Mindestens.