Millionen Afghanen wählen trotz Taliban-Drohungen
Kabul (dpa) - Millionen Afghanen haben den Drohungen der Taliban getrotzt und bei der historischen Präsidentenwahl einen Nachfolger von Amtsinhaber Hamid Karsai bestimmt.
Mit der Wahl bereiteten sie der ersten demokratischen Machtübergabe in der Geschichte Afghanistans den Weg. Zwar kam es zu tödlichen Anschlägen der Taliban. Die von den Aufständischen angedrohte Welle von Angriffen auf Wahllokale blieb aber aus. Die Abstimmung am Samstag verlief besser als erwartet und wurde international gelobt.
Erste offizielle vorläufige Teilergebnisse werden erst in den kommenden Tagen erwartet. Das Endergebnis will die Wahlkommission (IEC) am 14. Mai verkünden. Sollte kein Bewerber eine absolute Mehrheit erhalten, ist für den 28. Mai eine Stichwahl vorgesehen.
Nach Schätzungen der IEC beteiligten sich am Samstag rund sieben Millionen der mehr als zwölf Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung. Bei der Wahl 2009 waren 5,8 Millionen Stimmen abgegeben worden, von denen 1,2 Millionen wegen Betrugs für ungültig erklärt wurden. Bei der Wahlbeschwerdekommission (ECC) gingen am Wahltag nach Angaben eines Sprecher 162 dokumentierte Beanstandungen wegen Betrugs oder anderer Unregelmäßigkeiten ein.
Karsai, der seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 regiert, durfte nach der Verfassung nicht erneut antreten. Acht Kandidaten bewarben sich um seine Nachfolge. Als Favoriten gelten die früheren Außenminister Abdullah Abdullah und Salmai Rassul sowie Ex-Finanzminister Ashraf Ghani.
Abdullah und Ghani beklagten am Samstagabend Wahlbetrug und forderten die ECC zur Prüfung auf. Ghani sagte: „Ein verfälschtes Ergebnis ist für uns nicht akzeptabel.“ Rassul sagte, er vertraue der Wahlkommission und werde deren Entscheidungen akzeptieren. Karsai betonte am Samstagabend in einer Ansprache an die Nation: „Wir haben der Welt gezeigt, dass wir eine Demokratie sind.“
Nach Angaben des Geheimdienstes NDS gab es am Samstag deutlich weniger Angriffe als bei der Wahl 2009. Innenminister Umer Daudsai sagte nach Schließung der Wahllokale am Samstagabend, in den 24 Stunden seit Freitagabend sei es zu 140 Angriffen und Anschlägen gekommen. Neun Polizisten, sieben Soldaten und vier Zivilisten seien ums Leben gekommen. Zudem seien 89 Taliban-Kämpfer getötet worden. Aus ländlichen Gegenden gab es Berichte, dass Taliban-Drohungen und Gewalt Menschen von der Wahl abgehalten hätten.
US-Präsident Barack Obama würdigte die Wahl als „wichtigen Meilenstein“ auf dem Weg des Landes in eine demokratische und eigenverantwortliche Zukunft. Die Wähler hätten „enthusiastisch“ an der Abstimmung teilgenommen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte „großen Respekt vor dem Engagement, das die Menschen in Afghanistan zeigen“. Auch Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gratulierte zu der „beeindruckenden Beteiligung“. Die Vereinten Nationen nannten die hohe Wahlbeteiligung „bemerkenswert“.
In Kabul bildeten sich trotz Regens Schlangen vor den Wahllokalen. In der Hauptstadt - wo spektakuläre Anschläge befürchtet worden waren - blieb es am Wahltag ruhig. Zur Wahl waren die 352 000 afghanischen Sicherheitskräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden.
Wegen des großen Andrangs verlängerte die Wahlkommission die Öffnungszeit der Wahllokale um eine Stunde. In Wahllokalen in mehreren Provinzen gingen die Stimmzettel aus, die nach IEC-Angaben aus den Provinzhauptstädten nachgeliefert wurden.
Afghanische Wahlbeobachter stellten der Wahl nach einer vorläufigen Bewertung ein zufriedenstellendes Zeugnis aus. „Die Gesamtbewertung deutet bislang darauf hin, dass der Wahlprozess gut lief“, teilte die Stiftung für Transparente Wahlen (Tefa) mit. „Die Beteiligung von Männern und Frauen war in allen Provinzen bemerkenswert.“
Einen Tag nach der Wahl wurden bei einem Anschlag in der nordafghanischen Provinz Kundus zwei IEC-Mitarbeiter und ein Polizist getötet. Die Männer hätten Wahlurnen mit Stimmzetteln aus dem Distrikt Chanabad nach Kundus-Stadt transportieren wollen, als ihr Fahrzeug in eine Sprengfalle geraten sei, sagte ein Polizeisprecher. Der für die Provinz zuständige IEC-Chef Mir Hamsa Ahmadsai sagte, Wahlurnen und Stimmzettel seien bei dem Anschlag zerstört worden.
Die Wahl ist die letzte, bevor der Kampfeinsatz der Nato-geführten Schutztruppe Isaf in Afghanistan zum Jahresende ausläuft. Alle drei Favoriten haben angekündigt, im Falle eines Sieges das Sicherheitsabkommen mit den USA zu unterzeichnen, das Voraussetzung für einen kleineren Nato-Einsatz zur Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte von 2015 an ist. Karsai hatte die Unterschrift trotz Appellen aus dem In- und Ausland verweigert.
Überschattet wurde die Wahl von dem tödlichen Anschlag auf die deutsche Foto-Reporterin Anja Niedringhaus im Osten des Landes. Die preisgekrönte Mitarbeiterin der US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP) war am Freitag von einem Polizisten erschossen worden, eine kanadische AP-Kollegin wurde verletzt. Der Schütze nannte der Polizei zufolge als Motiv für seine Tat Rache für Nato-Luftangriffe auf sein Dorf. Der Leichnam der deutschen Journalistin wurde am Samstag in die Bundesrepublik gebracht.