Jugendbewegung in Frankreich #Nuitdebout: Nachtwachen gegen Hollandes Sozialpolitik
Paris/Berlin. In Berlin versuchen sie es Samstagabend auch mal auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg, doch mit nicht einmal 100 Zusagen ist das Interesse an einem deutschen „#Nuitdebout“ weit von den Massenprotesten entfernt, die sich unter diesem Hashtag in Frankreich gerade zu einer neuen Jugendbewegung formieren.
„Nuit debout" (deutsch etwa: „Nacht im Stehen" oder „Nachts über wach") entstand vor erst einer Woche spontan im Anschluss an eine Demonstration gegen die Arbeitsrechts-Reform von Präsident Francoise Hollande und breitet sich seitdem rasant in Frankreich aus. Ein Teil der Demonstranten besetzte die Place de la République, die im Januar 2015 nach den Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo" und das nahegelegene Veranstaltungszentrum „Bataclan“ wie auch nach den islamistischen Morden im November zum zentralen Pariser Gedenkort wurde. Die jungen Leute blieben einfach über Nacht, trugen politische Forderungen vor und diskutierten über Nacht.
Die Stimmung ist ein bisschen wie auf einem Massen-Sit-in: Es wird diskutiert, sich gegenseitig wirklich zugehört, es gibt Musik. Nach dem Wochenende stieß der 36-jährige EU-Abgeordnete Miguel Urbán Crespo, der die spanische Protest-Bewegung Podemos in Brüssel vertritt, zu den nachtwachenden Demonstranten und befeuerte die Idee, durch die Besetzung des öffentlichen Raums Politik zu machen. „Wichtig ist, dass es morgen 20 besetzte Plätze gibt, übermorgen dann 30, dass die Bewegung sich in verschiedenen Städten und Vierteln ausbreitet", sagte Crespo laut Reportern der Agentur Agence France-Presse.
Das Internet tat seine Wirkung: Innerhalb weniger Tage breitete sich #Nuitdebout über ganz Frankreich aus. Entsprechende Versammlungen gab es im Verlauf der Woche in mehr als 50 Städten, teils mit massiven Polizeieinsätzen der Polizei. Auf der Place de la République haben sich den eher links orientierten jungen Demonstranten inzwischen auch Flüchtlinge angeschlossen, die aus einem illegalen Camp unter einer Metro-Brücke an der Station „Stalingrad“ im Norden der Stadt vertrieben worden sind.
Inzwischen umfasst die Bewegung deutlich mehr als 100.000 Demonstranten, Frankreich steht möglicherweise ein heißes Wochenende bevor. Eines der bekanntesten Gesichter von „#Nuitdebout“ ist der 25-jährige Rémy Buisine, der die nächtlichen Diskussionen und Proteste mit seinem Handy und der kostenlosen Live-Video-App „Periscope“ täglich im Internet überträgt.
In der Nacht zu Freitag sahen „nur“ 5600 Zuschauer im Internet zu, aber insgesamt mögen knapp vier Millionen Menschen seine Dokumentation des Protests der neuen Bewegung. Bilder von der Place de la République zeigten am späten Donnerstagabend rund 20.000 „#Nuitdebout“-Teilnehmer. Inzwischen haben sich den Protesten auch Jugendliche in sechs spanischen und zwei belgischen Städten angeschlossen. Buisine ist inzwischen Interview- und Talkshow-Gast auf vielen TV- und Radiosendern.
Von all dem sind die Berliner „#Nuitdebout“ noch sehr weit entfernt. Für den morgigen Abend auf dem Kreuzberger Mariannenplatz suchen sie unter anderem noch ein Megaphon, Camping-Lampen und eine Plane, um auf der Wiese nicht im Nassen sitzen zu müssen.
Rémy Buisine auf Twitter und Periskope: @RemyBuisine