Vor 50 Jahren Sechstagekrieg: Jerusalem als Herzstück des Konflikts
Vor 50 Jahren brachte der Sechstagekrieg den Ost- und Westteil der Stadt wieder zusammen — und vereinte damit auch die Problemfelder des Nahen Ostens.
„Zehn Maß Schönheit kamen auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun Maß. Die übrige Welt eins. Zehn Maß Leiden kamen auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun Maß. Die übrige Welt eins.“Babylonischer Talmud
Bonn. Der eine sagt, der Sechstagekrieg vor 50 Jahren sei der Beginn der Besatzung gewesen. Der andere sagt, mit dem Krieg sei Jerusalem wiedervereinigt worden. Der eine ist Palästinenser. Der andere ist Jude. Beide sind in Jerusalem geboren und sagen, wer eine Lösung für Jerusalem finde, habe damit den Schlüssel für eine Lösung der Konflikte im Nahen Osten in der Hand. Und beide sagen auch, sie seien Freunde.
Eine denkwürdige Begegnung ist das am Vorabend der Jahrestagung des Internationalen Rates der Christen und Juden in Bonn. Der eine ist Munib Younan, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land und bis Mai auch Präsident des Lutherischen Weltbundes. Der andere ist Elan Ezrachi, Pädagoge, Berater internationaler jüdischer Organisatione — und Autor eines (bisher nur auf Hebräisch erschienenen) Buchs, das die Entwicklung Jerusalems in den vergangenen 50 Jahren beschreibt.
Beide sind in die geteilte Stadt hineingeboren worden. Seit dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 lagen das jüdische Viertel der Altstadt und der Ostteil Jerusalems in jordanischer Hand. Die Juden wurden vertrieben, ihre heiligen Stätten wie der jüdische Friedhof und die Klagemauer waren für sie nicht mehr zugänglich. Entsprechend hat Ezrachi die Zeit nach dem Sechstagekrieg 1967 als nationales Hochgefühl erlebt, als Aufblühen der schon 1950 ausgerufenen und bis heute international nicht anerkannten Hauptstadt Israels.
Younan, damals 16 Jahre alt, erinnert sich daran, der Krieg habe die Palästinenser völlig unvorbereitet getroffen. „Im Ostteil haben Muslime und Christen wie eine Familie zusammengelebt.“ Die sechs Kriegstage verbrachte er in den Katakomben unter einer Kirche. Und er hat die Lautsprecherdurchsagen noch im Ohr, die den Palästinensern anboten, sie mit Bussen nach Jordanien zu bringen. „Aber mein Vater sagte: Selbst wenn sie mich töten, ich gehe nicht.“
Unter den Juden, so Ezrachi, habe das politische Verständnis vorgeherrscht, der größte Teil des eroberten Westjordanlandes werde bald an Jordanien zurückgegeben. Eine Veränderung sei nur für Jerusalem und die Region um die Stadt herum vorgesehen gewesen. „Wir dachten, die Besetzung wird zwei Wochen dauern“, erzählt Younan. „Aber diese zwei Wochen haben nie geendet.“
Bis heute gilt auch die Entscheidung des damaligen israelischen Verteidigungsministers Mosche Dajan, den Tempelberg als drittheiligste Stätte der Muslime nach der Eroberung Ostjerusalems in die Hände der islamischen Stiftung Waqf zu legen, um eine Eskalation zu vermeiden. Aber die Situation hat sich in fünf Jahrzehnten dennoch zugespitzt.
Der Status der Palästinenser als „ständige Einwohner“ ist strikten Vorschriften unterworfen. Familienzusammenführungen zwischen Ostjerusalem und den übrigen Palästinensergebieten sind seit der Zweiten Intifada (2000—2005) kaum noch möglich. Und einer zunehmend radikalisierten palästinensischen Bevölkerung steht eine zunehmend radikalisierte jüdische Bevölkerung gegenüber: Die Kinder liberaler Juden verlassen die Stadt in Richtung Westküste oder Europa; dafür wächst die Gruppe der kompromisslosen (ultra-)orthodoxen Juden weiter an. Heute leben in Jerusalem laut Ezrachi 550 000 Juden und 350 000 Palästinenser.
Dass die Lage in Jerusalem schlimmer als vor 50 Jahren ist, empfinden Younan und Ezrachi gleichermaßen. Das Vertrauen, das noch zwischen den drei Friedensnobelpreisträgern Jitzchak Rabin, Schimon Peres und Jassir Arafat geherrscht habe, sei längst zusammengebrochen. „Beide, die Sieger und Besiegten, sind Gefangene des Konflikts“, sagt Ezrachi.
Der Jude hofft nicht mehr auf die Politik, er hofft auf die Bevölkerung. „Die Bewohner sagen, wir müssen das in die eigenen Hände nehmen.“ Er erzählt von einer Straße, die Muslime und Juden trennt und in der doch eine enge Zusammenarbeit entstanden ist. Und sein palästinensisches Gegenüber ergänzt: „Bisher ist das ein politisches Problem. Wenn sie ein religiöses daraus machen, sind wir alle verloren.“
Doch auch schon heute leiden alle Seiten. Und die Stadt braucht eine Lösung, „bei der wir uns gegenseitig akzeptieren“, fordert Younan. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert, als er und Ezrachi sich kennenlernten und beide Familien erstmals aufeinandertrafen, wurden ihre Kinder zuvor von ihren Eltern stundenlang mit Verhaltensregeln malträtiert. Doch dann zogen sie einfach miteinander spielend davon, ohne sich um irgendetwas zu scheren. „Das war ein Fall von Menschlichkeit“, blickt der Bischof zurück. „Und diese Seite der Menschlichkeit fehlt heute.“