Offene Briefe und Co. Wie die Angst vor einer Ausweitung des Krieges Deutschland spaltet

Moskau · Prominente, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler - die Sorge vor einer Eskalation des russischen Angriffskrieges in der Ukraine hat in Deutschland zu einer Debatte geführt, die es so in anderen EU-Staaten nicht gibt. Das russische Außenministerium hat sich nun zu Spekulationen über einen möglichen Atomwaffeneinsatz geäußert.

Eine russische Atomrakete bei der Militärparade zum Tag des Sieges über den Roten Platz in Moskau (Archivbild).

Eine russische Atomrakete bei der Militärparade zum Tag des Sieges über den Roten Platz in Moskau (Archivbild).

Russlands Außenministerium hat Spekulationen über einen möglichen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine zurückgewiesen. Für einen solchen Einsatz gebe es klare Richtlinien in der russischen Atomdoktrin, betonte Alexej Saizew, ein Sprecher des Ministeriums, laut der Nachrichtenagentur Interfax.

„Sie sind nicht anwendbar für die Verwirklichung der Ziele, die im Rahmen der militärischen Spezialoperation in der Ukraine gesetzt wurden“, fügte er hinzu. Russland nennt den Krieg in der Ukraine „Spezialoperation.“ Die russische Atomdoktrin sieht einen Einsatz der Atomwaffen nur bei einer Gefährdung der Existenz des Landes selbst vor.

Saizews Angaben nach hat Russland mehrfach Abkommen vorgeschlagen, die einen Atomkrieg unmöglich machen sollen. Dem Westen warf der Top-Diplomat eine bewusste Eskalation mithilfe der „erfundenen atomaren Bedrohung durch Russland“ vor.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte im Februar, als er den Krieg gegen die Ukraine befahl, den Westen davor gewarnt, sich einzumischen. Anderenfalls hätte das für die betreffenden Länder „Folgen, mit denen sie noch nie konfrontiert“ waren. Gleichzeitig ließ der Kremlchef die eigenen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen.

Außenministerin Annalena Baerbock äußert Verständnis für Sorge vor Atomkrieg

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat Verständnis für die Angst vieler Menschen vor einem atomaren Konflikt mit Russland geäußert. „Vor unserer Haustür führt eine Atommacht einen brutalen Angriffskrieg“, sagte sie dem Hamburger Nachrichtenmagazin „Spiegel“. „Wem das keine Angst macht, der ist entweder unehrlich oder hat die Lage nicht verstanden, in der Europa seit dem 24. Februar ist.“

„Ich verstehe, dass man in einem Land, dem so lange vergönnt war, in Frieden zu leben, Sorgen hat. Mir geht es nicht anders“, sagte die Grünen-Politikerin. Daher müsse auch über Worst-Case-Szenarien gesprochen werden. Zwar habe der russische Präsident Wladimir Putin seine Rhetorik schon vor Jahren verschärft, „aber in der gegenwärtigen Situation eines heißen Krieges muss man solche Drohungen natürlich noch ernster nehmen“.

Ziel der westlichen Politik sei die Deeskalation, sagte Baerbock weiter „Wir wollen ein Übergreifen des Kriegs auf andere Länder verhindern. Daher müssen wir Putin deutlich machen, dass wir unser Bündnisgebiet mit allem, was wir haben, verteidigen.“

Mit Blick auf künftige Ausgaben für die Bundeswehr zeigte sich Baerbock weiterhin skeptisch über das Ziel, jedes Jahr zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren. „Zwei Prozent der Wirtschaftskraft für Militär auszugeben bedeutet, dass wir in einer Rezession weniger ausgeben würden. Dann erreichen wir zwar die Prozentzahl, haben aber noch keinen einzigen Hubschrauber gekauft.“

Deswegen solle nicht ein wenig aussagekräftiges Zwei-Prozent-Ziel ins Grundgesetz geschrieben, sondern das 100-Milliarden-Sondervermögen. „In manchen Jahren werden wir dadurch mehr als zwei Prozent ausgeben, in anderen vielleicht etwas weniger.“

„Die 100 Milliarden sind für die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit da, und zwar ausschließlich“, sagte sie. Dazu gehöre, der Kauf von 35-Kampfjets, Hubschraubern, die auch fliegen, oder Munition im zweistelligen Milliardenbereich. „Dazu gehört aber auch, dass wir uns zum Beispiel gegen Cyberangriffe schützen.“

Baerbock vertrat damit auch die Linie ihrer Partei. Die Grünen hatten sich auf ihrem Länderrat am vergangenen Samstag zum Sondervermögen bekannt, die Festschreibung des Zwei-Prozent-Ziels im Grundgesetz aber abgelehnt.

Angst vor Ausweitung des Krieges? Offene Briefe gegen und für eine starke Unterstützung der Ukraine mit Waffen Deutschlands

Ist der Kanzler besonnen, oder zaudert er bloß? Ist der russische Präsident ein unberechenbarer Imperialist mit dem Finger auf dem Atomknopf oder ein kühl kalkulierender Machthaber, der geschickt mit der Angst westlicher Politiker vor einem Dritten Weltkrieg spielt?

Nach Wochen der Schockstarre beteiligen sich seit einigen Tagen nun auch verstärkt Deutschlands Dichter, Denker, Kabarettisten, Autorinnen, Fernsehmoderatoren, Musiker und Schauspieler an der Debatte darüber, wie der Westen im Allgemeinen und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Speziellen auf den russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine angemessen reagieren sollte.

Es ist eine deutsche Debatte, die es in dieser Form in anderen EU-Staaten so nicht gibt. Die Wortführer auf der Seite der Mahner gehören zu einem großen Teil der Generation der Über-70-Jährigen an. Es sind Menschen, die noch eigene Erinnerungen an die Nachkriegszeit haben, manche haben den Zweiten Weltkrieg noch selbst erlebt, die Krisen der Zeit des Kalten Krieges sind ihnen noch präsent. Dass sie deshalb besser wissen, welche Waffen, Munition und militärische Ausbildung Deutschland den Ukrainern zur Verfügung stellen sollte, ohne dadurch eine weitere Eskalation zu provozieren, muss das aber nicht bedeuten.

Manchmal könne die aus historischen Erfahrungen, auch in der Familie, gespeiste Angst wohl auch den Blick trüben, räumt Katja Lange-Müller ein. Die Autorin hat zunächst den Offenen Brief der Feministin Alice Schwarzer, des Schriftstellers Martin Walser und anderer Prominenter unterzeichnet, in dem diese Scholz für seine „Besonnenheit“ loben. Sie appellieren an den Kanzler, Putin kein „Motiv“ für eine Ausweitung des Krieges zu liefern. Doch braucht jemand, der einen völkerrechtswidrigen Krieg anzettelt, überhaupt ein Motiv?

Die Unterzeichner des Briefes fordern Anstrengungen für einen raschen Waffenstillstand und einen „Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“. Später bezeichnet Lange-Müller ihre Unterschrift als Fehler und fragt: „Soll der moralische Furor nur die Angst bemänteln, unsere so begründete wie vielleicht auch selbstsüchtige Angst?“

Der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke sieht Parallelen zur sogenannten Kuba-Krise 1962. Damals stand die Welt kurz vor dem Atomkrieg. US-Präsident John F. Kennedy kündigte einen atomaren Gegenschlag an, sollte die Sowjetunion von Kuba nukleare Raketen starten. Am Ende verhindert ein in geheimen diplomatischen Verhandlungen erreichter Kompromiss, dass es so weit kommt.

Funke hält eine Waffenruhe, die Raum für ernsthafte Verhandlungen bieten könnte, für unabdingbar. Er schreibt: „Es gibt tatsächlich seit geraumer Zeit weltweit keine Initiative zum Waffenstillstand, die diesen Namen verdient“. Brandgefährlich findet er die Aussage von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, „Wir wollen Russland in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.“

Zu den prominentesten Stimmen im Lager der Mahner zu mehr Besonnenheit zählt der Philosoph Jürgen Habermas (92). Er schrieb Ende April in einem vielbeachteten Gastbeitrag: „Der Westen, der ja schon mit der Verhängung drastischer Sanktionen von Anbeginn keinen Zweifel an seiner faktischen Kriegsbeteiligung gelassen hat, muss deshalb bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet.“

Im in dieser Woche veröffentlichten RTL/ntv-Trendbarometer sprechen sich 46 Prozent der Bundesbürger für eine Lieferung von Offensivwaffen und schwerem Gerät durch Deutschland aus. Anfang April waren es noch 55 Prozent. Die vom Meinungsforschungsinstitut Forsa erhobenen Daten zeigen außerdem: Im Westen (48 Prozent) ist die Unterstützung für Waffenlieferungen größer als im Osten (39 Prozent). Männer (54 Prozent) plädieren eher für die Lieferung schwerer Waffen als Frauen (40 Prozent).

Auch das Alter spielt hier womöglich eine Rolle. 52 Prozent der Befragten im Alter zwischen 30 und 44 Jahren und 49 Prozent der Menschen aus der Altersklasse 45 bis 59 Jahre sind laut Umfrage für die Lieferung von schwerem Gerät zur Verteidigung der Ukraine. Von den jüngeren Deutschen (18-29 Jahre) und bei den Über-60-Jährigen sind lediglich jeweils 42 Prozent dafür.

Jung und Alt haben sich diese Woche dann zu einem Gegenentwurf zusammengefunden. Der in der „Zeit“ veröffentlichte Offene Brief richtet sich zwar in seiner Anrede auch an den Bundeskanzler, faktisch ist er aber auch eine Replik auf den Blick der Mahner um Walser und Schwarzer.

Die Unterzeichner, zu denen unter anderem der Schriftsteller Maxim Biller und der Pianist Igor Levit gehören, argumentieren wider die Angst. Sie schreiben: „Würde der Westen von der Lieferung konventioneller Waffen an die Ukraine zurückscheuen und sich damit den russischen Drohungen beugen, würde das den Kreml zu weiteren Aggressionen ermutigen. Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden.“

Auch von anderer Seite hagelt es Kritik an der Argumentation von Schwarzer & Co., was manchem Anlass für ein Lamento über den Ton der Auseinandersetzung bietet. Der Kabarettist Dieter Nuhr, der zu den Unterzeichnern des „Emma“-Briefes gehört, beklagt sich auf seiner Facebook-Seite: „Leider wurde das im offenen Brief Geschriebene allzu häufig bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Es ist heute in der öffentlichen Auseinandersetzung üblich, dass der Andersmeinende durch Etikettierung und Diffamierung abgewertet wird und dass Empörung Abwägung ersetzt.“

(dpa/afp)