Experte: Die Vergleichbarkeit der Abitur-Noten ist eine Illusion

Die Abiturienten in NRW freuen sich nach dem Prüfungsstress auf die Abi-Feiern. Doch sorgen die zentralen Tests tatsächlich für mehr Transparenz?

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Wuppertal. Das Ziel eines jungen Menschen muss eine möglichst gute schulische Bildung sein: Zwei Fremdsprachen zu beherrschen, über eine fundierte naturwissenschaftliche Grundbildung zu verfügen, gesellschaftswissenschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, sich mit Kunst, Musik und Literatur zu beschäftigen, ist eine Bereicherung für das ganze Leben. Das Abitur zu erlangen, als den höchst möglichen deutschen Schulabschluss, ist damit der berechtigte Wunsch aller jungen Menschen, die dafür die Voraussetzung mitbringen.

Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass die Zahl der Schüler, die ihre Schullaufbahn mit dem Abitur abschließen, seit vielen Jahren stetig wächst. Bundesweit verlässt inzwischen fast jeder zweite Schüler die Schule mit dem Abitur. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Abiturnoten immer besser werden. Der Anteil der sehr guten und guten Abiturergebnisse steigt signifikant. Die immer größere Zahl an erfolgreichen Abiturienten geht jedoch einher mit einer hohen Zahl von Studienabbrechern. Es ist ganz offensichtlich, dass auf das Abitur, mit dem die Berechtigung zum Besuch der Hochschule verbunden ist, zu häufig kein erfolgreiches Studium folgt.

Das Zentralabitur als zentrales Instrument der Output-Orientierung hat das Dilemma, dass mit dem Abiturzeugnis nicht unbedingt auch eine umfassende Studierfähigkeit verbunden ist, nicht lösen können. Es kommt erschwerend hinzu, dass das Zentralabitur vor allem auch die damit verbundenen Erwartungen an die Vergleichbarkeit der Abiturnoten nicht erfüllen kann.

Zentralabitur bedeutet, dass die Aufgaben der Abiturklausuren der beiden Leistungskurse und eines weiteren Grundkurses zentral von dem Schulministerium gestellt werden und für alle Schüler gleich sind. Diese Klausuren werden dann nach einem vorgegebenen Korrekturraster von den jeweiligen Fachlehren und einem Zweitkorrektor bewertet. Die hier ermittelten Noten gehen aber nur zu etwa 25 Prozent in die Berechnung der endgültigen Abiturnote des einzelnen Schülers ein.

Die anderen 75 Prozent der Abiturdurchschnittsnote, die in vielen Studienfächern über den Hochschulzugang entscheidet, setzen sich aus den Einzelnoten der beiden letzten Schuljahre der Qualifikationsphase und dem mündlichen Teil der Abiturprüfung zusammen.

Dies bedeutet, dass die Schüler, die für ihr angestrebtes Studium auf einen sehr guten Notenschnitt im Abiturzeugnis angewiesen sind, in den letzten beiden Schuljahren fast jede erteilte Einzelnote, seien es Noten für Klausuren, Referate, Protokolle oder auch mündliche Mitarbeit, im Blick behalten müssen.

Damit bleibt der überwiegende Teil der Notenfestlegung des „Abischnitts“ in der Hand der einzelnen Fachlehrer.

Dabei kann man davon ausgehen, dass die Leistungsunterschiede der Schüler nicht nur verschiedener Schulen, sondern sogar auch paralleler Deutsch- und Englischkurse an der gleichen Schule, so groß sind, dass eine Gleichheit der Notengebung eine Illusion ist. Dabei ist der Aufwand an Zeit und Energie gewaltig, den die Lehrer in die rechtssichere Benotung der schriftlichen Arbeiten investieren müssen. Viele Lehrer würden einen Teil der Korrekturzeit lieber für die Arbeit mit ihren Schülern und die zielgerichtete Förderung einsetzen.

Die absolute Vergleichbarkeit schulischer Noten stößt unvermeidlich an Grenzen. Unterricht ist eine soziale Interaktion, ein ganz privater Prozess zwischen der Lerngruppe und dem Lehrer, der immer einmalig ist und sich vor allem bei der Erteilung der Note für die mündliche Mitarbeit einer absoluten, gerechten Messbarkeit entzieht. Messen kann der Deutschlehrer mit hoher Genauigkeit die Zahl der Rechtschreibfehler, der Grammatikfehler und auch die Variabilität der Syntax.

Schwierig ist dagegen eine über den Kurs hinausgehende vergleichbare Notengebung, wenn es um das Ziel geht, die Motivation, die Kritikfähigkeit, die Eigenständigkeit der Gedanken und damit den persönlichen Lernfortschritt der Schüler zu bewerten. Hier ist die Professionalität des Lehrers gefordert, genau diese Fähigkeiten und Kompetenzen individuell zu fördern und dann auch zu bewerten.

Die schulischen Noten entziehen sich trotz des oben ausgeführten kleinen zentralen Anteils der normierten Aufgabenstellung für drei Abiturklausuren einer absoluten Vergleichbarkeit hinter der Kommastelle. Deshalb ist es problematisch, wenn der Notendurchschnitt des Abiturs allein über den Hochschulzugang in den einzelnen Studiengängen entscheidet. Es ist nicht zu vermitteln, wenn es von dem Notenunterschied zwischen 1,0 und 1,3 abhängt, ob der Abiturient ein bestimmtes Studienfach studieren darf oder dieser kaum relevante Notenunterschied darüber entscheidet, ob der Student in München oder Flensburg zugelassen wird.

Ganz offensichtlich können die Schulen in ihrer Gesamtheit dem Anspruch, Noten für den Numerus Clausus objektiv vergleichbar zu machen, nicht gerecht werden. Schüler der Oberstufe spüren das, wenn einige Schüler jede Einzelnote, auch in Kunst oder Sport, sofort in eine Noten-App eintragen, um so zu prüfen, ob die Zielnote 1,0 noch erreichbar bleibt. Dann kommt sehr schnell der Hinweis an den Fachlehrer: „ Mit der Note zwei in Kunst verhindern Sie meinen Studienplatz in Medizin. Dafür brauche ich auch in Kunst die Eins!“

Mit der immer größer werden Bedeutung der Abiturdurchschnittsnote haben die Schulen und damit die Lehrer nicht mehr allein die zentrale Aufgabe, Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, ihnen ist die Aufgabe der Platzierungsfunktion ihrer Schüler für die Zeit nach der Schule, nämlich der Universität, zugefallen.

Die Schule vergibt also bei der Bedeutung des Numerus Clausus nicht nur die Studienberechtigung, sie entscheidet auch darüber, was und wo der einzelne Schüler studieren kann. Da dem einzelnen Lehrer vor Ort aber die Kriterien der Notenvergabe seiner Kollegen an der Nachbarschule, an der Schule in der Nachbarstadt oder gar in einem anderen Bundesland nicht transparent sein können, hat die Notenvergabe die Tendenz, den eigenen Schüler bei der Notenvergabe nicht zu benachteiligen. Kein Lehrer will seinem Schüler die „Zukunft“ verbauen. Es kann nicht das Interesse des Lehrers sein, der seine ihm anvertrauten Schüler umfassend fördert und individuell bildet, mit der Notenentscheidung zwischen sehr gut oder gut auch gleichzeitig über den Lebensweg nach der Schule zu entscheiden.

Mit der Einführung des Zentralabiturs hat die sogenannte „Noteninflation“ einen zusätzlichen Schub bekommen. Zentrale Aufgabenstellungen, die für alle Schulen passen, haben die Zahl der Bestnoten stark steigen lassen und auch den Abi-Schnitt immer weiter angehoben. Wenn die Hochschule sich mehr als bisher in den Aufnahmeprozess einbringt, ändert sich nicht nur die Situation an der Schule. Für die Hochschule würde dabei gleichzeitig die Verpflichtung wachsen, einem jungen Menschen, den die Universität nach eigenen Kriterien zum Studium zugelassen hat, ihn also für befähigt hält, auch zum Studienabschluss zu führen.

Richtig ist hier auch, dass für zahlreiche Schüler, die mit dem Besuch der Oberstufe eine umfassende Schulbildung erwerben, die Wahl beruflicher Bildungsgänge die bessere Alternative ist. Hier gibt es attraktive Angebote, die auf das Interessen- und Leistungsprofil dieser Abiturienten besser passen.

Die Schule der Zukunft braucht den kritischen Geist ihrer Schüler und Lehrer. Das ist wichtiger, als den Unterricht auf die Note nach dem Komma und den kleinen zentralen Anteil der Abiturnote auszurichten. „Brauchen wir das Thema für die zentrale Abiturprüfung?“ ist die nachvollziehbare Standardfrage, mit der die Schüler heute die Wichtigkeit der Unterrichtsthemen einordnen.

Unterricht muss mehr sein als eine Notenfixierung, die zentral über Studienplätze und damit Berufsziele entscheidet. Alle in der Schule brauchen den unverstellten, unverbrauchten Blick der jungen Menschen, die Widerspruch riskieren, die etwas Neues wagen, die nach vorne gehen. All das widerspricht aber einem Unterricht, der zu sehr auf die Notengebung fokussiert ist und dem Ziel einer zentralen Messbarkeit folgt. Auch bei dem vielfach geforderten deutschlandweiten Zentralabitur wird es ein unerfüllter Wunsch bleiben, die Abiturnoten hinter der Kommastelle wirklich objektiv zu machen.