EU-Gericht kippt Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung
Luxemburg/Berlin (dpa) - Nach einem EU-Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung ist offen, ob die massenhafte Sammlung von Kommunikationsdaten in Deutschland und Europa noch eine Zukunft hat. Das EU-Gesetz verstoße gegen Grundrechte und sei deshalb ungültig, urteilte der Gerichtshof am Dienstag.
„Es ist so, als hätte es das Gesetz nie gegeben“, erklärten Experten der EU-Kommission. Unklar ist, ob die Brüsseler Behörde einen neuen Entwurf vorlegen wird. In der großen Koalition in Berlin tun sich Unstimmigkeiten auf. Justizminister Heiko Maas (SPD) will ergebnisoffen über das weitere Vorgehen reden. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) fordert dagegen eine rasche Regelung für Deutschland.
2006 hatten die EU-Staaten die Datenspeicherung auf Vorrat beschlossen. Sie soll bei der Aufklärung schwerer Verbrechen, organisierter Kriminalität und Terrorismus helfen. Fahnder können auf die gesammelten Daten zugreifen und wissen etwa, wer wann mit wem telefoniert hat. Der Inhalt von Gesprächen wird nicht erfasst.
Die systematische Datenspeicherung ist in der EU seit Jahren umstritten. Der Europäische Gerichtshof schaltete sich ein, nachdem eine irische Bürgerrechtsorganisation, die Kärntner Landesregierung und mehrere Tausend Österreicher dagegen geklagt hatten.
Nach Ansicht der Luxemburger Richter ist die Speicherung ein „Eingriff von großem Ausmaß und von besonderer Schwere“ in die Grundrechte der Bürger (Rechtssachen C-293/12 und C-594/12). Dies verletze den Datenschutz und das Recht auf Achtung des Privatlebens. Der Bürger könne das Gefühl der ständigen Überwachung bekommen.
Das Speichern der Daten von bis zu zwei Jahren sei nicht auf das absolut notwendige Maß beschränkt, hieß es weiter. Die nationalen Behörden könnten zudem ohne Einschränkung auf Daten zugreifen. Diese seien nicht ausreichend vor Missbrauch geschützt.
Allerdings stellten die obersten Richter Europas das Prinzip der Datenspeicherung im Kampf gegen Terrorismus und schwere Kriminalität nicht in Frage, weil sie dem Gemeinwohl diene. Fast überall in Europa dürften somit vorerst weiter Daten gesammelt werden, auf die Terrorfahnder zugreifen können. Denn 26 der 28 EU-Staaten haben die nun gekippten Vorgaben bereits in ihr Recht übertragen, diese nationalen Gesetze zur Datenspeicherung bleiben gültig. Deutschland sammelt allerdings nicht - das wird wohl auch so bleiben.
In Deutschland gibt es derzeit keine gesetzliche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung. Das Bundesverfassungsgericht hatte die deutschen Vorgaben 2010 gekippt. Die damalige schwarz-gelbe Regierung konnte sich danach nicht auf eine Neufassung einigen.
Union und SPD hatten im Koalitionsvertrag vereinbart, die Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen. Sie hatten damit gerechnet, dass der Gerichtshof lediglich Änderungen an der EU-Richtlinie einfordern würde - und wollten nach dem Urteil schnell einen eigenen Entwurf vorlegen. Das gilt nun nicht mehr.
Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) erklärten, mit dem Urteil sei eine neue Lage entstanden. „Es gibt keine Richtlinie mehr, die wir umsetzen müssen“, sagte Maas. Somit drohten auch keine EU-Bußgelder mehr. Die EU-Kommission hatte Deutschland verklagt, weil Berlin das europäische Gesetz nicht umgesetzt hatte. Wie es mit der Klage weitergeht, will die Brüsseler Behörde bald entscheiden.
Maas sagte, das weitere Verfahren sei nun in der Koalition ergebnisoffen zu besprechen. De Maizière betonte dagegen, die Vorratsdatenspeicherung sei auch nach dem EuGH-Urteil ein wichtiges Mittel zur Aufklärung schwerer Verbrechen. „Ich dränge auf eine rasche, kluge, verfassungsgemäße und mehrheitsfähige Neuregelung.“
Oppositionspolitiker, Bürgerrechtler und Netzaktivisten forderten eindringlich, sich endgültig von der Vorratsdatenspeicherung zu verabschieden. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte, Union und SPD müssten die Pläne beerdigen. Auch Linksfraktionsvize Jan Korte mahnte, die Regierung müsse die Finger komplett davon lassen.
Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die sich vehement gegen die EU-Vorgaben gestemmt hatte, sagte: „Die Vorratsdatenspeicherung gehört in die Geschichtsbücher.“
Ob die EU-Kommission einen neuen Gesetzentwurf vorlegen wird, ist noch unklar. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström erklärte, die Brüsseler Behörde werde das Urteil genau analysieren. Allerdings würde wohl erst die neue Kommission einen neuen Gesetzesvorschlag machen. Die derzeitige Kommission ist noch bis Ende Oktober im Amt. Die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff riet der Bundesregierung, diese Entscheidung auf EU-Ebene zunächst abzuwarten.