EU-Gipfel schiebt Entscheidungen zu Flüchtlingspolitik auf
Brüssel (dpa) - Die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer mit mehreren hundert Toten haben Europa erschüttert. Seit Wochen diskutiert die EU über das Drama. Doch der Gipfel in Brüssel lässt auf Worte kaum Taten folgen.
Auch nach dem Tod von über 400 Menschen vor der italienischen Insel Lampedusa will die EU die Verteilung von illegalen Einwanderern nicht neu regeln. „Wir haben nicht über qualitative Veränderungen gesprochen“, sagte Kanzlerin Angela Merkel nach dem EU-Gipfeltreffen in Brüssel.
In der Gipfel-Erklärung kündigt die EU zwar „konsequente Maßnahmen“ an, um solche Tragödien zu verhindern. Es ist aber keine grundlegende Neuausrichtung vorgesehen. Die Tragödie im Mittelmeer und ihre Folgen spielen in dem Text nur eine untergeordnete Rolle.
Unterdessen reißt der Strom der Flüchtlinge nicht ab. Allein in der Nacht zum Freitag wurden vor der italienischen Küste im Mittelmeer mehr als 700 Menschen gerettet.
Merkel sagte, es habe eine lange, eindringliche Diskussion über das Flüchtlingsproblem gegeben. Es sei um kurzfristige Maßnahmen gegangen. Im nächsten Jahr sei ein EU-Afrika-Gipfel geplant, nähere Details dazu gab es nicht. Mit grundsätzlicheren Veränderungen solle sich ein EU-Gipfel im kommenden Juni befassen. Der französische Staatspräsident François Hollande sagte mit Blick auf Lampedusa: „Das ist vor allem ein menschliches Drama, das nicht das erste war, und nicht das letzte sein wird.“
„Das Ausmaß des menschlichen Dramas im Mittelmeer bedeutet, dass wir jetzt handeln müssen“, sagte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Konkrete Entscheidungen sollten bis Dezember vorbereitet werden. Unter anderem solle die gemeinsame Grenzschutz-Agentur Frontex gestärkt werden, die bisher nur 60 Beamte habe.
EU-Gipfelchef Herman Van Rompuy erklärte, die EU wolle den drei Grundsätzen „Vorbeugung, Schutz, Solidarität“ folgen. „Im Angesicht solcher Leiden sind wir alle betrübt, aber wir wissen auch, dass Migrationsströme ein komplexes Phänomen sind.“
Die EU-Länder sprachen Italien ihre Solidarität aus und bekundeten „tiefe Trauer“ über die jüngsten Ereignisse. Die Staatenlenker diskutierten auf Druck der Südeuropäer über das Thema. „Wir verlangen, dass Europa seinen Zugang zu diesem Thema ändert“, hatte Italiens Ministerpräsident Enrico Letta zu Beginn des Gipfels gesagt. Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann brachte eine Quote ins Gespräch: „Was aber Teil bei der Lösung oder der Milderung des Problems für Flüchtlinge wäre, ist natürlich, wenn jedes Land bereit wäre, eine gewisse Quote von Asylwerbern, Flüchtlingen aufzunehmen.“
Doch solch ein radikaler Kurswechsel hat in Europa keine Mehrheit. Die meisten EU-Regierungen - darunter Deutschland - sind mit dem bestehenden System einverstanden. Die Dublin-II-Verordnung legt fest, dass das EU-Land zuständig ist, in dem der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Das führt dazu, dass Flüchtlinge, die etwa aus Italien nach Deutschland kommen, dorthin abgeschoben werden. Dublin II bleibe die Grundlage, betonte Merkel nach den Gipfel-Beratungen.
Aus dem Europaparlament kam scharfe Kritik. Es fehle Klartext, sagte Rebecca Harms, Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, der dpa. „Klartext heißt: Alle europäischen Mitgliedstaaten müssen dazu gebracht werden, dass sie Asylrecht umsetzen.“ Man müsse auch über legale Einwanderung reden: „Wir haben da so ein verborgenes Sklavenheer in der Europäischen Union.“
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), hatte mehrfach gefordert, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen sollte, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. Berlin weist hingegen darauf hin, dass Deutschland im Vergleich zu Italien wesentlich mehr Asylbewerber pro Kopf der Bevölkerung aufnehme.
Der Gipfel diskutierte auch über die Bankenunion und Maßnahmen zur Stärkung maroder Institute. Nach den geplanten Stresstests im kommenden Jahr könnten neue milliardenschwere Hilfsmaßnahmen nötig werden, wenn Institute bei den Tests durchfallen. In der Abschlusserklärung schwächten die Staatenlenker Formulierungen zur direkten Bankenrekapitalisierung aber ab. So wurde die zunächst geplante Frist bis Jahresende für direkte Finanzspritzen aus dem Euro-Rettungsfonds ESM an Banken aus dem Text herausgenommen. Insbesondere Deutschland hat dagegen Bedenken.