Gauck lotet die Grenzen seines Amtes aus

Hat der Bundespräsident das Recht, den Kreml-Chef verbal zu attackieren? Kritik kommt nicht nur von der Linken.

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Danzig. Schon Stunden vor seiner Rede nestelt Joachim Gauck an einem Papiertaschentuch herum. Der Bundespräsident ist sichtlich nervös vor seinem Auftritt in Danzig. Vielleicht ahnt er auch schon, dass seine Worte zum 75. Jahrestag des Überfalls Hitler-Deutschlands auf Polen heftige Reaktionen auslösen werden — nicht hier in Danzig, sondern zu Hause. „Wann hat ein Bundespräsident je so offen gesprochen?“ fragt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am Dienstag. Und die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert: „Der unbesonnene Präsident“.

Gauck hat die Gedenkfeier auf der Westerplatte zu deutlichen Worten in Richtung Moskau genutzt. Einer der entscheidenden Sätze, auf die Einmischung Russlands im Ukraine-Konflikt bezogen: „Wir werden Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen.“ Moskau habe die Partnerschaft mit dem Westen „de facto aufgekündigt“. Die Geschichte lehre, „dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern“, sagt er, und meint den Mann, dessen Namen er nicht nennt: Wladimir Putin — der Aggressor.

Er wolle sich nicht in das „operative Geschäft“ der Außenpolitik einmischen, betont Gauck seit Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren immer wieder. Doch Kritiker meinen, diesmal habe er die Grenze überschritten. Gauck gieße „Öl ins Feuer eines europäischen Konflikts“, sagt Linke-Chef Bernd Riexinger.

Allerdings passt die Äußerung Gaucks durchaus in den Rahmen seiner bisherigen Stellungnahmen. Der Ex-Pastor aus der DDR, dessen Vater jahrelang in sowjetischer Lagerhaft war, hat schon früher die Aufarbeitung des „verbrecherischen Sowjetsystems“ angemahnt und eine „lange Geschichte von Entfremdung, Rechtlosigkeit und Mord“ kritisiert. Eine Reise zu den olympischen Winterspielen im Februar in Sotschi sagte er ab, ein seit langem geplanter Staatsbesuch in Russland kam nie zustande.

Die Nato müsse im Ukraine-Konflikt zu ihren Bündnisverpflichtungen stehen, sagte Gauck schon im Mai. Und in seiner Grundsatzrede vor der Münchner Sicherheitskonferenz Ende Januar warb er für eine Außenpolitik des Einmischens statt des Wegsehens, notfalls auch mit Waffengewalt.

Nach einem ersten Jahr der Zurückhaltung im Amt ist Gauck mutiger geworden, will wohl auch die Grenzen seines Amtes offensiver auslegen. Allerdings gibt sich der einst von Rot-Grün nominierte Präsident alle Mühe, keinen Dissens mit der CDU-Kanzlerin aufkommen zu lassen. So steht er auch im Ukraine-Konflikt hinter dem Kurs von Angela Merkel. Allenfalls gibt es eine gewisse Arbeitsteilung, die sich aus regelmäßigen Treffen ergibt. Gauck ist zuständig für das grundsätzliche Wort, die Kanzlerin für praktische Politik.

Dass Gauck, den man einen „Erinnerungsprofi“ nennt, gerade wegen seiner Biografie ein eher schwieriges Verhältnis zu Russland hat, behindert nicht sein historisches Bewusstsein. Zum 70. Jahrestag der Befreiung Leningrads schrieb er im Januar an Putin: „Ich kann nur mit tiefer Trauer und mit Scham an den Vernichtungskrieg Nazi- Deutschlands gegen die Sowjetunion denken.“ Der Zweite Weltkrieg habe tiefe Wunden im Verhältnis zwischen Deutschland und Russland hinterlassen, betonte er damals.

Auch das spricht dafür, dass er sich seine Worte in Danzig genau überlegt hat.