Neue Studie Industrie fordert Strategiewechsel in Klimapolitik

Berlin (dpa) - Die deutsche Industrie fordert die Politik zu einem umfassenden Strategiewechsel in der Klimapolitik auf und warnt vor nationalen Alleingängen.

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Langfristige Klimaziele seien bei riesigen Investitionen und deutlich stärkeren Anstrengungen technisch möglich und wirtschaftlich vertretbar - wenn sie nicht zu ambitioniert und national isoliert seien. Das sind Kernpunkte einer Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Die umfassende Untersuchung wird am Donnerstagvormittag in Berlin vorgestellt. Sie kommt mitten in der Phase der schwierigen Bildung einer neuen Bundesregierung.

„Die deutsche Klimaschutz- und Energiepolitik befindet sich auf gefährlichem Schlingerkurs“, sagte BDI-Präsident Dieter Kempf der dpa. „Neue Impulse und wesentliche Kurskorrekturen sind dringend notwendig.“ Es brauche enorme Investitionen quer durch die deutsche Volkswirtschaft und eine tiefgreifende Veränderung in vielen Unternehmen der Industrie.

Deutsche Unternehmen bräuchten einen wirksamen Schutz vor Wettbewerbs- und Standortnachteilen, damit Klimaschutz nicht auf Kosten von Jobs und Produktionsverlagerungen ins Ausland gehe. Nötig seien weltweit vergleichbare Rahmenbedingungen. Gewarnt wird außerdem vor weiter steigenden Stromkosten. Bei einer ineffizienten Umsetzung der Energie- und Klimawende drohten erhebliche Kosten zu Lasten des Wirtschaftswachstums. „Eine konsequente Verfolgung der deutschen Klimaziele birgt neben Chancen für neue Technologien das Risiko enormer Strukturbrüche“, heißt es außerdem - etwa bei einem Ausstieg aus der Kohleverstromung.

In der Studie der Managementberatung Boston Consulting Group sowie des Beratungsunternehmens Prognos im Auftrag des BDI wird in verschiedenen Szenarien untersucht, wie und ob Klimaschutzziele für das Jahr 2050 machbar sind. Bis 2050 will Deutschland 80 bis 95 Prozent weniger klimaschädliche Treibhausgase gegenüber 1990 ausstoßen. Das wichtigste Treibhausgas ist Kohlendioxid (CO2), das unter anderem bei der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas entsteht.

Falls die Anstrengungen zum Klimaschutz in der jetzigen Form unverändert weitergingen, wird laut Studie bis 2050 eine Verringerung der Treibhausgas-Emissionen von 61 Prozent erreicht. Daraus ergibt sich eine deutliche Lücke zu den politischen Zielen. Deutschland will eigentlich bis 2020 bereits 40 Prozent weniger CO2 ausstoßen als 1990. Bis 2030 soll der Treibhausgas-Ausstoß um 55 Prozent, bis 2050 um 80 bis 95 Prozent gesenkt werden.

Eine Minderung der Emissionen von 80 Prozent bis 2050 ist laut Untersuchung aber „technisch möglich und volkswirtschaftlich vertretbar“. Voraussetzung seien allerdings erhebliche zusätzliche Kraftanstrengungen sowie ein Schutz der Unternehmen, um die Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. Energie- und emissionsintensive Industrien müssten von direkten und indirekten CO2-bedingten Mehrkosten befreit werden.

Bedeutend schwieriger wäre es laut Studie allerdings, die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 um 95 Prozent zu verringern. Dies wäre „an der Grenze absehbarer technischer Machbarkeit und heutiger gesellschaftlicher Akzeptanz“. Eine solche Verringerung erfordere praktisch Nullemissionen für weite Teile der deutschen Volkswirtschaft, etwa im Verkehrs- und Energiebereich, heißt es.

BDI-Präsident Kempf sagte, das politische Ziel, die Treibhausgas-Emissionen gegenüber 1990 bis zum Jahr 2050 um 80 Prozent zu reduzieren, sei ambitioniert. „Das Ziel, bis dahin sogar 95 Prozent zu sparen, ist überambitioniert.“

Die Bundesregierung hat sich - auch im Rahmen des völkerrechtlich bindenden Klimaabkommens von Paris - dem Leitbild der „weitgehenden Treibhausgasneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts“ verpflichtet. Allerdings sinkt der Treibhausgas-Ausstoß Deutschlands seit Jahren kaum noch, obwohl der Anteil an erneuerbaren Energien im Strommix Jahr für Jahr steigt. Klimaschützer fordern deswegen einen Ausstieg aus der Stromgewinnung aus Kohle und die Einführung eines sogenannten CO2-Preises, der den Ausstoß von Treibhausgasen teurer macht und damit klimafreundliche Technologien fördert.

Bei einer 95-Prozent-Reduzierung müsste es laut Studie im Jahr 2050 zum Beispiel 30 Millionen Batterie-Autos geben und damit drei Viertel des Fahrzeugbestandes. 8000 Kilometer Autobahn und damit mehr als die Hälfte des jetzigen Netzes müssten mit Oberleitungen für elektrische Lastwagen ausgestattet sein. Wind und Photovoltaik müssten fünfmal mehr Strom erzeugen als heute, 80 Prozent der Gebäude müssten auf dem heutigen Neubaustandard sein.

Ein Ziel von 95 Prozent würde außerdem einen weitestgehenden Verzicht auf alle fossilen Brennstoffe bedeuten sowie den „selektiven Einsatz aktuell unpopulärer Technologien“ - wie der unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid. Viele Umweltverbände sind gegen diese Form der CO2-Speicherung, weil sie Umweltgefahren befürchten.

Eine wichtige Botschaft der Studie lautet außerdem: Eine Reduzierung von 95 Prozent bis 2050 wäre nur zu erreichen, wenn es ähnlich hohe Ambitionen in den meisten anderen Ländern weltweit gebe. Der BDI forderte daher, die Bundesregierung solle das 95-Prozent-Ziel aufgeben, wenn es auf globaler Ebene nicht zu vergleichbaren Ambitionen komme. Einzelne Staaten könnten den Klimawandel selbst mit massivem Aufwand nicht alleine stoppen.

Um die Klimaziele zu erreichen, sind laut Studie riesige Investitionen notwendig. Beim 80-Prozent-Ziel wären es 1,5 Billionen Euro, beim Ziel 95 Prozent 2,3 Billionen. Diesen Mehrinvestitionen stünden aber große Einsparungen bei den Energiekosten gegenüber. Bei einer optimalen Umsetzung wären die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen neutral, das bedeutet, die Erreichung der Klimaziele ginge nicht zu Lasten von Einbrüchen beim Wirtschaftswachstum.