Politik Jamaika-Sondierungen und Lobbyismus - Ein Schwein schwebt über Jamaika

Der Berliner Verhandlungspoker lockt zahlreiche Lobbyisten und Aktivsten an — Greenpeace gelangt in den Bundestag.

Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace hängen mit einem Transparent mit der Aufschrift "Jamaika- lass die Sau raus" an der Brücke zwischen dem Paul-Löbe Haus und dem Marie Elisabeth Lüders Haus des Bundestags. Im benachbarten Haus der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft finden Sondierungsverhandlungen von CDU, CSU, FDP und Grünen über eine Jamaika-Koalition statt.

Foto: Michael Kappeler

Berlin. Ein riesiges aufgeblasenes rosa Schwein und vier Greenpeace-Aktivisten hingen Freitagfrüh von einer Brücke, die zwei Bürogebäude des Bundestages über die Spree hinweg miteinander verbindet. In guter Sichtweite der Jamaika-Verhandler. Die Sondierungsgespräche von Union, Grünen und FDP ziehen Aktivisten und Lobbyisten an wie das Licht die Motten.

Greenpeace wollte mit der Aktion für eine Agrarwende werben. Die war in den Beratungen eines der 125 strittigen Themen. Die Polizei ließ die Kletterer zunächst gewähren, allerdings dürften sich die Sicherheitsverantwortlichen jetzt Gedanken machen. Denn die Brücke, von der sich die jungen Leute abseilten, gehört zum inneren Bereich des Parlamentsgebäudes, in das Fremde nur per Einladung und Passieren einer Sicherheitsschleuse gelangen können. Um ihr umfangreiches Equipment in den Reichstag zu bekommen, müssen die Protestierer also Helfer gehabt haben — womöglich unter Mitarbeitern oder Abgeordneten, die ohne Durchleuchtung in das Gebäude gehen können.

Da in diesen Tagen wegen der Dauerverhandlungen praktisch ständig TV-Teams in der Gegend unterwegs sind, häufen sich derartige Aktionen. Den Anfang machte schon beim Start der Jamaika-Sondierungen die Initiative „Demokratie jetzt“, die schwarz-grün-gelbe Luftballons in den Himmel steigen ließ. Sie wirbt für Volksentscheide. Am Donnerstag stellte sie gegenüber dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft, den die Verhandler gern für Verschnaufpausen nutzen, einen überdimensionalen Spiegel auf: „Wir enthüllen den Spiegel der Gesellschaft“ war dazu zu lesen. Der Bund der Steuerzahler ließ tagelang mehrere Wagen mit überdimensionalen Plakaten durch das Regierungsviertel fahren. Aufschrift: „Wort halten, Soli abschaffen“. FDP-Chef Lindner fand die Aktion so gut, dass er den Aktivisten extra einen Besuch abstattete. Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ stellte sich am Donnerstag mit einem großen „Soli-Stop“-Schild vor das Bundesfinanzministerium, wo gerade die Ergebnisse der jüngsten Steuerschätzung verkündet wurden.

Gleichzeitig werden die Parteibüros und Redaktionen mit Pressemitteilungen überschwemmt. Der Bundesverband der Deutschen Industrie veröffentlichte ein Zehn-Punkte-Papier. Die Forstwirtschaft meldete sich — sie müsse ein eigenständiger Themenbereich in den Verhandlungen werden. Der „Junge Wirtschaftsrat“, ein CDU-naher Nachwuchsverband, forderte die Abschaffung der Rente mit 63, die Caritas wiederum genau das Gegenteil. Besonders aktiv sind auch Umwelt- und Migrantengruppen. Die Verhandler haben die meisten Themen freilich ohnehin auf dem Schirm und Probleme genug, sich zu einigen. Vielen Lobbyisten geht es wohl eher darum, sich selbst im Windschatten der medialen Aufmerksamkeit bemerkbar zu machen.

Freilich, auch ohne Sondierungen ist das Gebiet um Reichstag und Brandenburger Tor so etwas wie die deutsche Hyde Park Corner geworden, wo jeder sich darstellen kann. Aktuell sind am Brandenburger Tor drei senkrecht aufgestellte Busse zu sehen, eine Anti-Kriegs-Skulptur eines deutsch-syrischen Künstlers, die bereits in Dresden für Aufregung sorgte. Und am Mittwoch veranstaltete ein Schweizer Theaterregisseur mit einigen Anhängern anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution einen „Sturm auf den Reichstag“. Es blieb allerdings beim Sturm auf die Wiese davor.