"Lies!"-Verbot vor Gericht: Worum es dabei wirklich geht

„Lies!“ war die größte und aufwendigste Werbeaktion von Islamisten in Deutschland. Vor gut einem Jahr wurde sie verboten. Dagegen wehren sich die Initiatoren nun vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Mit einem Plakat auf dem Rücken versucht ein Teilnehmer der Koran-Verteilaktion „Lies!“ auf der Zeil in Frankfurt am Main die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Aufnahme wurde am im Januar 2015 gemacht. (Archivfoto)

Foto: Boris Roessler

Leipzig/Köln. Wenn geständige Islamisten und Syrien-Rückkehrer über ihren Weg in den Terrorismus berichten, sagen viele, mit „Lies!“ habe alles angefangen. Die Koran-Verteilaktion in deutschen Innenstädten war die größte und aufwendigste Werbeaktion von Salafisten in Deutschland - bis sie vor gut einem Jahr verboten wurde. An diesem Dienstag verhandelt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über eine Klage der Initiatoren gegen das Verbot (Az.: 1 A 13.16). Einer der Kläger ist der Islamist Ibrahim Abou-Nagie.

Mit Info-Ständen in deutschen Innenstädten gingen radikale Islamisten jahrelang auf Menschenfang. An den Ständen entstand in vielen Fällen der erste Kontakt, über den vornehmlich Jugendliche und junge Erwachsene in der Salafistenszene landeten. Hinter der Aktion steht die 2005 gegründete Organisation „Die wahre Religion“, die zuletzt mehrere hundert Mitglieder gehabt haben soll. Als Gründer und Initiator gilt der Laienprediger Abou-Nagie. Bis Mitte 2016 sollen seine Helfer rund 3,5 Millionen Koranexemplare verteilt haben. Mehrere Millionen Euro soll das gekostet haben.

Für den Verfassungsschutz war die Koran-Verteilaktion in den Fußgängerzonen nur Fassade, um für eine verfassungsfeindliche Ideologie zu werben. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) stützte das Verbot entsprechend auf die Verfassungswidrigkeit der Organisation nach dem Vereinsrecht. Das dahinter stehende Predigernetzwerk lehre ein extremistisches Verständnis der Scharia, das im Widerspruch zum Grundgesetz stehe. Bundesweit seien rund 140 junge Islamisten nach einer Radikalisierung durch „Lies!“ in die Kampfgebiete der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gereist, hatte de Maizière gesagt. „Das mussten wir unterbinden.“

Mitte November 2016 waren 1900 Polizisten ausgerückt, um in 60 deutschen Städten 190 Wohnungen, Lager und Büros zu durchsuchen. Der Schwerpunkt der Aktion lag in Nordrhein-Westfalen mit Durchsuchungen an 35 Orten. Es war eine der größten Polizeiaktionen gegen Islamisten in Deutschland. Das Zentrallager der Koranverteiler in Pulheim bei Köln wurde von der Polizei versiegelt und mehr als 20 000 Koran-Exemplare wurden beschlagnahmt. Der damalige NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) sagte, es sei die führende Organisation für die Rekrutierung von Kämpfern für den Dschihad verboten worden.

Die beiden Kläger argumentieren formaljuristisch, es gebe keinen Verein „Die wahre Religion“ oder „Lies!“. Entsprechend könne die Aktion nicht nach dem Vereinsrecht verboten werden. Teilorganisationen waren von den Machern als „Stiftung“ bezeichnet worden, mal war auch von einem Netzwerk die Rede.

Im Eilverfahren war der Antrag der Kläger im Mai abgewiesen worden. Die Begründung des Gerichts war dabei ebenso formal wie die der Kläger: Diese hätten ausdrücklich nicht für den Verein, sondern als Privatpersonen Rechtsschutz beantragt. Als Privatpersonen stehe ihnen eine solche Klagebefugnis aber nicht zu. Auch im Hauptverfahren an diesem Dienstag werde es in erster Linie um die Frage gehen, ob es die Vereinigung tatsächlich gegeben habe, sagte ein Sprecher des Bundesverwaltungsgerichts.

Der Islamist Ibrahim Abou-Nagie wohnte lange Zeit mit seiner Familie in einem Reihenhaus in Köln und ist wegen Sozialhilfebetrugs zu 13 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Zwischenzeitlich war der 53-jährige gebürtige Palästinenser untergetaucht und hatte per Videobotschaft verkündet, seine Arbeit in Malaysia fortzusetzen. Der dreifache Vater mit deutscher Staatsangehörigkeit soll dem Staat Nebeneinkünfte und Konten verschwiegen haben. Das Landgericht Köln hatte das Urteil in zweiter Instanz bestätigt. Derzeit liegt der Fall beim Oberlandesgericht.