Nachruf auf Richard von Weizsäcker

Richard von Weizsäcker verkörperte nach innen das liberale Bürgertum und nach außen das gute Deutschland

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Nur der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt kann für sich eine so ungeteilte Zustimmung unter den Deutschen beanspruchen wie der am Wochenende verstorbene Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker es konnte. Doch was bei Schmidt mehr Bewunderung für einen Macher und Weltökonomen ist, war bei Weizsäcker Zuneigung. Und aufrichtige Achtung.

Die erwarb er sich nicht nur mit seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985, als er die 40 Jahre zuvor erfolgte deutsche Kapitulation als "Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" bezeichnete. Dieser Satz war für die deutschen Konservativen sogar eher ein Affront. Franz-Josef Strauß schimpfte über den "Spezialgewissenträger" im Präsidialamt. Weizsäcker hatte bewusst eine Formulierung aufgegriffen, die bis dahin fast nur die Sowjetunion und die Linke verwendet hatte. Nun sagte der deutsche Bundespräsident, dass sie richtig sei.

Der 8. Mai 1945, die Niederlage, sei nicht ohne den 1. September 1939, den von Deutschland angezettelte Kriegsausbruch zu erklären, sagte Weizsäcker und benannte damit klar, wer schuld an diesem Krieg und allen seinen auch für die Deutschen katastrophalen Folgen war. Zugleich beschrieb er das Nazi-Regime als menschenverachtend. Das geschah in einer Zeit, da die Deutschen sich gerade der Ungeheuerlichkeiten der Shoah bewusst wurden.

Richard Weizsäcker konnte dies glaubhafter als irgendjemand sonst vortragen. Denn er hatte das alles selbst erlebt, und zwar nicht nur am Rand. Als Wehrmachtssoldat überschritt er am 1. September 1939 mit den ersten Einheiten die Grenze zu Polen. Sein Bruder Heinrich starb am zweiten Tag fast neben ihm. Richard von Weizsäcker war bei der Belagerung Moskaus und Leningrads dabei, flüchtete mit Not über das Frische Haff, kam 1944 zum deutschen Widerstand um Stauffenberg, beging ganz zuletzt Fahnenflucht. Und nahm am Nürnberger Kriegsverbrecherprozess teil, um seinen Vater zu verteidigen, der Staatssekretär im Nazi-Außenministerium gewesen war. Sein Leben in diesen Jahren, er war noch keine 30, liest sich wie ein Buch der wichtigsten Ereignisse der Wehrmachtsgeschichte. Und zugleich wie ein Schicksalsroman aus der alten adeligen deutschen Führungselite.

Deswegen entfaltete seine Bewertung des Kriegsendes eine solche Wucht. So wie Willy Brandt das Deutschland derer verkörperte, die im Widerstand gewesen waren, so verkörperte Weizsäcker das jener, die mitmachen mussten und trotzdem versuchten, anständig zu bleiben. Dreißig Jahre nachdem er mit in Polen einmarschiert war, gehörte Weizsäcker zu den ersten in der CDU, die die Oder-Neiße-Grenze anerkennen wollten. Das war so etwas wie tätige Wiedergutmachung.

Die umfassende Zuneigung der Deutschen zu Weizsäcker aber resultierte noch aus einem anderen Element: Seinem Bekenntnis zu den Grundwerten eines liberalen, toleranten Bürgertums. Und aus seiner Distanz zu den Parteien, auch zur eigenen CDU. Weizsäcker wurde mehr als der Kirchenmann wahrgenommen - er war Präsident des Evangelischen Kirchentages - denn als Politiker. Er kritisierte, die Parteien machten sich den Staat zur Beute. Was ihm von diesen den Vorwurf eintrug, es sich zu einfach zu machen. Er müsse selbst nicht um die Macht kämpfen und könne leicht reden.

Freilich, als er von 1981 bis 1984 in Berlin als Regierender Bürgermeister selbst kurzzeitig Verantwortung trug, bewies er, dass er auch das konnte. So befriedete er den Konflikt um die Hausbesetzungen durch kluge Modelle der Legalisierung. Weizsäcker brachte Stil und Glanz ins Schöneberger Rathaus. Die Berliner jedenfalls trauerten "Häuptling Silberlocke", wie sie ihn liebevoll nannten, noch lange nach, und das tun sie bei ihren Amtsträgern sonst höchst selten.

Noch über einen vierten Politiker aus der letzten Kriegsgeneration muss zwingend in Zusammenhang mit Weizsäcker geredet werden: Helmut Kohl. Weizsäcker war das glatte Gegenbild zum Pfälzer, dem harten Parteipolitiker und Polarisierer, er war der Anti-Kohl. Erst in diesem Kontrast erlangte er Beliebtheit auch bei jenen, die nicht dem konservativen Lager angehörten. Weizsäcker war unbequem, weil er völlig unabhängig war. So kritisierte er Kohls Art, mit der Wiedervereinigung umzugehen. Er fand, die Ostdeutschen würden überfahren und die Westdeutschen nicht über die wirklichen Kosten aufgeklärt. Weizsäcker war der Bundespräsident der Einheit, so wie Kohl der Kanzler der Einheit war. "Er hält sich für den Klügsten", giftete Kohl.

Weizsäckers breite Popularität erklärt sich nicht aus einer besonders ausgeprägten Bürgernähe, wie sie etwa Johannes Rau auszeichnete. Zu Weizsäcker hielt man bis zuletzt bewundernde Distanz, obwohl er selbst die Distanz nicht suchte, im Gegenteil. Die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff hat einmal gesagt, wenn man einen idealen Bundespräsidenten künstlich herstellen könnte, es käme genau Richard von Weizsäcker heraus. Alle seine Nachfolger leiden darunter, dass diese These stimmt.