Tag der Deutschen Einheit Steinmeiers Einheits-Rede im Detail: Sehnsucht nach Heimat
Bei der ersten großen Rede des neuen Bundespräsidenten glaubte der „Spiegel“, er höre „Steinmeiers Ruck-Rede“, die „Welt“ fand Frank-Walter Steinmeier dagegen „nur defensiv“, wogegen seine Amtsvorgänger sich etwas getraut hätten. Dabei enthält die Rede, in deren Mittelpunkt der Begriff „Heimat“ steht, konkrete Ansätze.
„Heimweh nach früher hab ich keins / Nach alten Kümmernissen / Deutschland Deutschland ist wieder eins / Nur ich bin noch zerrissen.“
(. . .) Nicht nur Wolf Biermann, den ich zu Beginn zitiert habe, auch viele andere schauen mit Fragen, mit Sorgen, mit Verunsicherung auf die innere Einheit unseres Landes. (. . .)
Der Liedermacher Wolf Biermann (80) übersiedelte 1953 als Kommunist aus Hamburg in die DDR, geriet aber bald in Konflikt mit der SED. 1976 wurde er nach einem Konzert in Köln ausgebürgert. Das Zitat stammt aus seinem Lied „Um Deutschland ist mir gar bang“. Biermann veröffentlichte das Lied 1999 auf dem Album „Paradies uff Erden“, mit dem er 2000 im Berliner Ensemble auftrat. Vor der Zitatstelle heißt es in dem Lied: „Um Deutschland ist mir gar nicht bang / Die Einheit geht schon ihren Gang / unterm Milliardenregen / Wir werden schön verschieden nass / Weh tut die Freiheit und macht Spaß / ein Fluch ist sie, ein Segen.“
Die große Mauer quer durch unser Land ist weg. Aber am 24. September wurde deutlich: Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen — aber Mauern, die unserem gemeinsamen „Wir“ im Wege stehen.
Es wurde erwartet, dass Bundespräsident Steinmeier sich deutlich zum Ergebnis der Bundestagswahl äußern würde. In der ganzen Rede kommt die AfD namentlich nicht vor. Frank-Walter Steinmeier sagt an keiner Stelle konkret, wen er in der Verantwortung für das Entstehen der „unsichtbaren Mauern“ sieht. Mindestens einen Teil der Wähler der AfD („nicht alle“) zählt er nicht zu den Feinden der Demokratie, sondern formuliert ihre Rückgewinnung („sie fehlen“) als Aufgabe. Die „Welt“ kommentierte zur Rede des Bundespräsidenten: „Steinmeiers Rede zielte darauf, die demokratischen Bestände gegen Anfechtungen zu halten. Sie war defensiv. Doch gerade in schwierigen Situationen ist mit Kleinmut und Mittelweg nicht viel gewonnen. Gerade jetzt wäre es nötig, für den Nutzen des supranationalen Ansatzes zu werben, wäre es nötig, denen, die ein fiktives altes Deutschland bewahren wollen, entgegenzuhalten: Nur wer sich verändert, bleibt sich gleich und treu. Steinmeier aber hat beruhigen wollen. Mit dieser Haltung sollte man den parlamentarischen Neulingen im Bundestag nicht begegnen.“
(. . .) Verstehen Sie mich richtig: Nicht alle, die sich abwenden, sind deshalb gleich Feinde der Demokratie. Aber sie alle fehlen der Demokratie. Gerade deshalb sollten wir am 3. Oktober vom 24. September nicht schweigen.
(. . .) Flucht und Migration. Nirgendwo sonst stehen sich die Meinungslager so unversöhnlich gegenüber — bis hinein in die Familien, bis an den Abendbrottisch. Was für die einen kategorischer „humanitärer Imperativ“ ist, wird von anderen als angeblicher „Verrat am eigenen Volk“ beschimpft.
Die Formulierung „humanitärer Imperativ“ stammt aus der Rede von Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag im Dezember 2016 in Essen. Die Formulierung bezog sich auf die am 4. September zwischen Deutschland und Österreich getroffene Entscheidung, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlingen durchziehen zu lassen und die Grenzen nicht zu schließen. „Das war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ“, hatte Merkel zu dieser Entscheidung wörtlich erklärt.
Die Formulierung „Verrat am eigenen Volk“ wird von AfD-Anhängern im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels verwendet, unter anderem von Björn Höcke, dem AfD-Fraktionsvorsitzender im Thüringer Landtag. Die Formulierung stammt aus der Nazi-Zeit. Bekannt ist der Fall des katholischen Priesters Bernhard Lichtenberg (1875—1943), der 1942 in Hof wegen „Kanzelmissbrauchs“ und Vergehen gegen das Heimtückegesetz verurteilt wurde: Die Gestapo hatte bei ihm eine vorbereitete Kanzelvermeldung gefunden, in der Lichtenberg seine Gemeinde auffordern wollte, Flugblättern keinen Glauben zu schenken, die jedwede Unterstützung von Juden als „Verrat am eigenen Volk“ bezeichneten.
(. . .) Unser Grundgesetz garantiert den Schutz vor politischer Verfolgung, aus guten, in Deutschland auch historischen Gründen, an die wir uns erinnern. Doch wir werden den politisch Verfolgten nur dann in Zukunft gerecht werden können, wenn wir die Unterscheidung darüber zurückgewinnen, wer politisch verfolgt oder wer auf der Flucht aus wirtschaftlicher Not ist.
Als SPD-Politiker hätte Steinmeier mit dieser Formulierung vor der Wahl Schwierigkeiten bekommen, als Bundespräsident bringt er hier ein Dilemma auf den Punkt: das permanente Durcheinander, ob jemand als Flüchtling, als Asylbewerber oder als Immigrant nach Deutschland kommt. „Der Spiegel“ kommentiert dazu: „Das war nicht mehr und nicht weniger als die Forderung nach einer besseren rechtsstaatlichen Steuerung der Zuwanderung. Wenn in absehbarer Zeit ein modernes Einwanderungsgesetz kommt, wird Steinmeier mit seiner Mainzer Rede die argumentativen Grundlagen geschaffen haben.“
(. . .) Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein „Wir gegen Die“; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat.
(. . .) Wer in Deutschland Heimat sucht, kann nicht sagen: „Das ist Eure Geschichte, nicht meine“.
Heimat ist einer der zentralen Begriffe in Steinmeiers Rede. Der „Tagesspiegel“ aus Berlin kommentiert dazu: „Doch was durfte man von einem Mann erwarten, der bis vor Kurzem selbst Teil einer Bundesregierung war, die zwar die Herausforderungen dieser Welt angenommen hat, der aber Teile der Bevölkerung abhandengekommen sind? Ihnen, vor allem ihnen, stellt sich dieser Präsident zunächst einmal an die Seite. (. . .) Heimat ist für Steinmeier ein Ort, wo man versteht und zugleich verstanden wird.“
Doch wie sollen wir dieses Bekenntnis von Zuwanderern erwarten, wenn es in der Mitte unserer Demokratie nicht unangefochten bleibt?
Vieles in der Rede des Bundespräsidenten ist etwas durch die Blume formuliert. Kurz vor der Bekenntnis-Forderung heißt es im Redetext: „Die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemitismus, die Verantwortung für die Sicherheit Israels — all das gehört zum Deutsch-Sein dazu.“ Steinmeier hätte auch klarer sagen können: Arabischer Antisemitismus wird in Deutschland nicht als muslimische Folklore geduldet. Was an dieser Stelle — wie auch an denen zur AfD — fehlte, waren klare Sanktions-Vorstellungen.
Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keinen Schlussstrich — ich füge hinzu: erst recht nicht für Abgeordnete des Deutschen Bundestages.
Der „Schlussstrich“ spielt auf die berüchtigte Rede des AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland an, in der dieser erklärt hatte, die AfD werde sich „nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen“, und es zum Recht erklärte, „stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. In der gleichen Rede erklärte Gauland: „Man muss uns diese zwölf Jahre jetzt nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Und das sprechen wir auch aus.“
(. . .) Wir können viel von diesem Land erwarten. Ein Land, das sich aus mancher Krise befreit hat. Mit einer Politik, die offene Fragen nicht wegmoderiert, sondern die Zukunft in die Hand nimmt. Wenn das das Leitmotiv aller Politik wird, dann bewahren wir das Deutschland, das die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich wünscht: ein demokratisches Land, ein weltoffenes und europäisches Land, ein Land, das zusammenhält.
Der Hinweis auf das „Wegmoderieren“ ist ein klarer Angriff auf Angela Merkel. Dazu schreibt der „Spiegel“ online: „Als er dann die Grundzüge einer künftigen Migrationspolitik skizzierte, lieferte er damit nach, was viele Menschen sich schon 2015 von Angela Merkel und der großen Koalition erhofft hatten: eine argumentative Begründung ihrer Haltung in der Flüchtlingsfrage.“