SPD-Krise Wie es zum Nahles-Rückzug kommen konnte - und auf wen es jetzt ankommt
Berlin · Andrea Nahles hat offiziell die Reißleine gezogen. Das soll auch etwas mit dem NRW-Landesverband der SPD zu tun haben.
Andrea Nahles soll am Wochenende noch einmal viel Zeit damit verbracht haben, „ihre Schäfchen zu zählen“, wie einer aus der SPD berichtet. Ergebnis: katastrophal. Sie wäre durchgerasselt bei der Fraktionssitzung am kommenden Dienstag, in der sie die Vertrauensfrage stellen wollte. Mehr noch: „Es hätte definitiv einen Gegenkandidaten gegeben“, betont ein Insider. Einer mit Chancen. Am Sonntag um kurz vor zehn Uhr morgens zieht Nahles offiziell die Reißleine.
Sie lässt eine E-Mail an die Parteimitglieder und die Presse verschicken. Der zur Ausübung ihrer Ämter notwendige Rückhalt sei nicht mehr da, ist darin zu lesen. Deshalb werde sie als Vorsitzende der SPD und der Fraktion zurücktreten. Nahles bittet fast flehentlich: „Bleibt beieinander und handelt besonnen!“ Genau das Gegenteil musste sie in den letzten Tagen erleben. Brutaler kann man Amt und Würden nach nur 13 Monaten nicht verlieren. Ihr Parteifreund und Staatsminister Michael Roth twittert: „Der öffentliche Umgang mit Dir war schändlich. Einige in der SPD sollten sich schämen.“ Die 48-Jährige entscheidet sich, auch ihr Bundestagsmandat aufzugeben. Sie will den völligen Bruch mit der Politik.
Wie es soweit kommen konnte
Wie konnte es soweit kommen? In der SPD erzählen sie die Geschichte so: Am Wochenende sei der Druck auf die ungeliebte Spitzengenossin noch einmal erheblich gewachsen, Konsequenzen zu ziehen. Demnach macht man Nahles vor allem aus den starken Landesverbänden Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Hölle heiß. Sie bekommt zu hören, wie die Stimmung an der Basis ist: „Es gibt keinen Rückhalt mehr“, „flächendeckend“ werde sie inzwischen als Vorsitzende abgelehnt, lauten die Botschaften. „Das ist wirklich krass“, berichtet ein Genosse. Jedes Karnevalsvideo mit einer verunglückten Gesangseinlage, jede dumme Bemerkung „hängt ihr nach“. Das Spiel, das Nahles angefangen hat, um die Machtfrage zu entscheiden, ist endgültig verloren.
Sie hat es schon letzte Woche bei der Sonder-Fraktionssitzung gemerkt, aber vielleicht nicht wahrhaben wollen. Kaum hat das Treffen unter der Reichstagskuppel begonnen, wird sie direkt mit einer Rücktrittsforderung konfrontiert. Es gibt Wutausbrüche und verbale Attacken, „Du kannst es nicht“, soll Nahles gesagt worden sein. Langgediente Abgeordnete erzählen, dass sie so etwas noch nie erlebt hätten - der Tenor sei immer gleich gewesen: „Hauptsache, jemand anderes.“ Solidaritätsbekundungen kommen nur spärlich und spät. Schnell wird klar, Nahles hat sich mit ihrem Alleingang verzockt, nach dem Desaster bei der Europawahl von 15,8 Prozent die Wahl für den Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Manch einer sieht in der Frau aus der Eifel freilich eine Getriebene „der alten Herren“. Ihre Vorgänger Martin Schulz und Sigmar Gabriel haben besonders lustvoll an Nahles Stuhl gesägt. Ausgerechnet Gabriel erklärt: „Die SPD braucht eine Entgiftung.“ Keiner von beiden soll eine zweite Chance bekommen.
Neben einigen Fehltritten hat die Vorsitzende ihr Versprechen nie einlösen können, die Partei parallel zur Regierung zu erneuern. Freunde hat sie mittlerweile kaum noch. Es ist daher bezeichnend, von wem sie an so einem Tag Lob erhält. Zuerst von der Opposition. „Sie ist ein ehrliche und kompetente Politikerin“, sagt zum Beispiel FDP-Chef Christian Lindner. Am Nachmittag äußern sich dann auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundeskanzlerin Angela Merkel wohlwollend über Nahles. Sie sei eine „charakterstarke und aufrichtige“ Gesprächspartnerin gewesen, so AKK. Und: „Wir stehen weiter zur Großen Koalition.“ Die Union hat die Sorge, dass das Bündnis das SPD-Beben nicht überleben könnte. „Man kann jetzt nur von Tag zu Tag denken“, verlautet es.
Eine SPD-Frau, auf die es jetzt besonders ankommt
Eine, auf die es nun besonders ankommt, ist die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Kaum jemand ist so anerkannt wie sie. Dreyer ruft die Genossen zur Besonnenheit auf. Die SPD sei nicht führungslos, betont die stellvertretende Vorsitzende. Am Sonntagabend berät die engere Führung die „sehr, sehr ernste Lage“. An diesem Montag soll ein Vorschlag präsentiert werden, wie es personell weitergehen kann.
Dreyer und Vize Manuela Schwesig werden genannt, die SPD einzeln oder als Doppelspitze bis nach den Ost-Landtagswahlen im Herbst kommissarisch zu führen. Aus der Fraktion ist zu hören, dass der Linke Matthias Miersch die besten Karten für den Vorsitz haben soll: „Er ist ein Vernünftiger.“ Vorerst übernimmt Rolf Mützenich geschäftsführend den Job – neu gewählt werden soll am Dienstag noch nicht.
Der Name, der auch genannt wird, ist der von Vizekanzler Olaf Scholz. Freilich ganz anders: „Scholz ist überhaupt nicht mehr vermittelbar“, weiß ein führender Genosse. Zu unbeliebt soll er inzwischen in der Partei sein. Zumindest dieses Schicksal teilt er bereits mit seiner ehemaligen Verbündeten Nahles.