Maria Leitner Zum Tag der Pressefreiheit: Eine Undercover-Reporterin im Dritten Reich
Die Nazis verbrannten ihre Bücher und setzten sie auf die schwarze Liste. Unter Lebensgefahr berichtete Maria Leitner, was Deutsche nicht lesen durften.
Düsseldorf. Als die Nazis am 10. Mai 1933 ihren Roman „Hotel Amerika“ auf dem Berliner Opernplatz ins Feuer warfen, war Maria Leitner längst geflüchtet: Die Ungarin mit österreichischem Pass, die aus einer deutschsprachig jüdischen Familie stammte, stand auf der „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ und floh über Prag nach Paris.
Anders als viele Mitglieder des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller“ im Pariser Exil begnügte Maria Leitner sich nicht damit, bei den Montags-Treffen im „Café Mephisto“ am Boulevard Saint Germain Vorträge zu halten. Leitner kehrte unerkannt nach Deutschland zurück und berichtete zwischen 1936 und 1939 undercover aus dem Inneren des Dritten Reichs, was in Deutschland niemand schreiben und niemand lesen durfte.
Ein Schwerpunkt ihrer Reportagen war die heimliche Aufrüstung und die schleichende Umstellung auf Kriegsproduktion: Aus Leverkusen berichtete sie über sündhaft teure (und im Frieden nutzlose) Forschung an künstlichem Kautschuk. In „Solingen — wo sie Waffen schmieden“ (Titel der Reportage) klagte ihr ein Hersteller von Manikür-Scheren sein Leid, dass im verarmenden Nazi-Deutschland keiner Geld für Nagelfeilen habe, während die Bajonett-Produktion großartig laufe. „Sie (Anm.: die Arbeiter) schmieden Waffen für einen Wochenlohn von 25 Mark. Waffen, die sich gegen sie richten können. Schwer ist die Arbeit an den Schnellhämmern, an den Schleifsteinen, in der Härterei. Schwerer noch wird es sein, den Waffen die richtige Zielrichtung zu geben“, schrieb Leitner 1936 in der „Pariser Tageszeitung“.
Leitner, 1892 im heute kroatischen Varasdin geboren, das die Deutschen ihrer Zeit dem Namen nach aus Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“ kannten, gehörte trotz bürgerlicher Herkunft (Vater Bauunternehmer) zu den Mitgründern des kommunistischen Jugendverbands Ungarns, studierte in Berlin und Wien, ab 1913 schrieb sie als Journalistin für linke Zeitungen. 1919 floh sie nach Wien, Anfang der 20er Jahre folgte sie ihrem Bruder nach Amerika — wo ihre eigentliche journalistische Karriere begann.
Maria Leitner schrieb aus den USA Reportagen im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ für die damals modernste Illustrierte der Weimarer Republik, den „Uhu“ aus dem liberalen Berliner Ullstein-Verlag. In einem Porträt für „Telepolis“ beschrieb Hans Schmid sie vor einigen Jahren als den weiblichen „Günter Wallraff der Weimarer Republik“ und „Pionierin der Undercover-Reportage“. Maria Leitner arbeitete als „Scheuerfrau im größten Hotel der Welt“ in New York, schuftete in einer Zigarrenfabrik und als Kellnerin in einer Kleinstadt in Pennsylvania.
Laut ihres Verlages erhielt sie in den drei Jahren ihres USA-Aufenthalts für den „Uhu“ in „etwa 80 verschiedenen Stellungen (...) Einblicke in das häusliche Leben des amerikanischen Mittelstandes (...), wie sie sonst selten Amerikareisende erhalten“. Ein Foto im „Uhu“ zeigte 1925 ihr Profilfoto (siehe Bild).
In den USA erwarb Maria Leitner die Schreibtechnik, die sie ab 1936 für ihre lebensgefährlichen Berichte aus Nazi-Deutschland einsetzte. Neben ihren Enthüllungen über „Die Giftküchen von Höchst“ oder die „Chemische Hölle bei den IG Farben“ sind vor allem ihre Alltagsschilderungen bis heute lesenswert.
Eine Sonderstellung nimmt ihre 1938 in Moskau erschienene Reportage „Besuch bei Heinrich Heine“ ein. Offenkundig mit einem amerikanischen oder ungarischen Pass verschaffte sich Leitner Zutritt zum verbotenen „Heine-Zimmer“ in der Landes- und Stadtbibliothek (heute Standort der Kunstsammlung K20) am Grabbeplatz (Namensänderung 1936 nach dem bei den Nazis beliebten Vormärz-Dramatiker Christian Dietrich Grabbe, 1801—1836). Dass die Ortsbezeichnung bei Leitner noch Friedrichsplatz lautet, könnte darauf hindeuten, dass der Besuch bereits wie in Solingen und Leverkusen 1936 erfolgte.
Der Nazi-Gauleiter Friedrich Karl Florian (1894—1975) plante damals, das bereits 1931 errichtete „Schlageter-Nationaldenkmal“ auf der Golzheimer Heide (heute Teil des Nordfriedhofs) zu einer monumentalen „Schlageter-Stadt“ auszubauen. Der militante Nazi-Terrorist Albert Leo Schlageter (1894—1923) hatte unter anderem südlich des Kalkumer Bahnhofs eine Eisenbahnbrücke gesprengt und war dafür von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und in Golzheim hingerichtet worden. Die Nazis verehrten ihn als den „Ersten Soldaten des Dritten Reichs“, bis 1945 trug die Westseite der Königsallee seinen Namen.
Beim Erscheinen der Heine-Reportage 1938 dürften die Nazis getobt haben. In Deutschland waren 1938 alle abweichenden Stimmen längst mundtot gemacht, enteignet oder vertrieben. 1933 hatte es noch rund 4700 Zeitungen in Deutschland gegeben, davon nur 121 unter der direkten Kontrolle der Nazis. Ein Jahr später waren lediglich noch 1402 Zeitungen übrig; davon nun 434 unter direkter NSDAP-Lenkung. Terror und Gleichschaltung liefern von Anfang an parallel: Am 15. März, einen Tag nach seiner Vereidigung, erklärte Propagandaminister Joseph Goebbels, es werde ab sofort Aufgabe der täglichen Reichspressekonferenz sein, Instruktionen zu empfangen: „Sie sollen nicht nur wissen, was geschieht, sondern sollen auch wissen, wie die Regierung darüber denkt und wie Sie das am zweckmäßigsten dem Volk klarmachen können.“
In sein Tagebuch notierte Goebbels an diesem Abend: „Viele von denen, die hier sitzen, um öffentliche Meinung zu machen, sind dazu gänzlich ungeeignet. Ich werde sie sehr bald ausmerzen.“ Im Juli 1933 hatte Goebbels die Reichspressekonferenz offiziell übernommen und ließ täglich Presseanweisungen erteilen, die nach Gebrauch zu vernichten waren. 330 Anweisungen wurden Juli bis Dezember 1933 erteilt, 1000 im Jahr 1934. Im letzten Vorkriegsjahr 1938 schwoll ihre Zahl auf 3750 an, die sich in heimlich aufbewahrten Mitschriften erhielten (siehe Spalte „Zensur der Nazis“).
Maria Leitner bekamen die Nazis nie zu fassen — und dennoch wurde sie ihr Opfer. In Frankreich verschlechterte sich ihre wirtschaftliche Lage zusehends, während sie wie so viele vergeblich auf ein Visum für die USA hoffte. 1940 gelang ihr noch die Flucht aus einem französischen Internierungslager, doch sie endete in Marseille, wo Maria Leitner am 14. März 1942 infolge völliger Erschöpfung starb.