Abgewählte Ministerpräsidentin von NRW Zu Hause in Mülheim ist Hannelore Kraft nicht allein

Ab Dienstag ist Hannelore Kraft nur noch einfache Abgeordnete. Aber in ihrer Heimat Mülheim lässt niemand sie fallen.

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Mülheim. Es ist Dienstag, der 30. Mai, kurz nach 12 Uhr. Die SPD-Fraktion hat gerade Norbert Römer als Vorsitzenden wiedergewählt. Der 70-Jährige lässt die Journalisten noch etwas warten. Da öffnet sich die Tür zum Fraktionssaal im Düsseldorfer Landtag, Hannelore Kraft tritt heraus, einen Blumenstrauß in der Hand. Ein kurzer Blick in die Runde, ein leichtes Nicken, dann geht sie. Niemand spricht sie an, niemand folgt ihr. Es ist ein Moment der Einsamkeit einer Verliererin.

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Wie haben sie ihr zugejubelt beim Landesparteitag im Februar: 100 Prozent Zustimmung für die zum dritten Mal gewählte Spitzenkandidatin. Vier Monate und eine Wahlniederlage später fehlt sie in Duisburg, als Michael Groschek zu ihrem Nachfolger an der Spitze der Landespartei gewählt wird: „Sie kann heute leider nicht bei uns sein. Sie lässt euch aber grüßen.“ Und noch einmal 14 Tage später beim Bundesparteitag in Dortmund findet der Name Kraft überhaupt keine Erwähnung mehr. Vielleicht hat sie geahnt, dass das alles so kommen würde. Und deshalb mit dem sofortigen Verzicht auf alle Parteiämter selbst für jene fröstelnde Distanz gesorgt, die im politischen Betrieb unweigerlich eintritt, wenn jemand die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht.

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Verzicht auf alle Parteiämter? Alexander Böhm kann weiter mit Beisitzerin Hannelore rechnen. Böhm ist SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Mülheim-Stadtmitte und Kraft gehört dort, in ihrer Geburts- und Heimatstadt, seit 1999 mit zum Vorstand. „Natürlich war sie nicht bei jeder Sitzung dabei. Aber einmal im Jahr ist sie zur Mitgliederversammlung gekommen, auch im März wieder.“ Auch Böhm spürt die Distanz zu Kraft in der Landes- und Bundespartei. „Im Moment redet keiner über sie. Das ist nicht schön, aber wohl ein unvermeidlicher Reflex.“

An ihrer Reputation in ihrer Heimat ändert das nichts. Bei der Wahl hat sie zwar auch hier Federn lassen müssen: nur noch 43,7 Prozent statt 59,1 Prozent vor fünf Jahren. Aber für den Sieg im Wahlkreis hat das noch immer deutlich gereicht. „Und es rechnen ihr viele hoch an, dass sie ihr Mandat noch annimmt, damit Mülheim künftig im Landtag nicht nur von FDP und Grünen vertreten wird“, sagt Böhm. Kraft, die Parteisoldatin. Und Kraft, die Nahbare, die ihr Herz auf der Zunge, aber die Nase nicht hoch trägt, und es gut kann mit den Leuten: Das gehörte einerseits zur Inszenierung als Landesmutter. Aber nur spielen lässt sich ein solches Bild nicht über einen Zeitraum von sieben Jahren. „Kraft inszeniert, was sie ist“, schrieb der „Spiegel“ schon vor der Wahl 2012. Und ein Besuch in ihrer Heimat lässt keinen Zweifel zu, dass das noch bis heute gilt.

„Das ist nicht nett gewesen“, sagt Zennure Celik-Öztürk und meint damit Krafts Abwahl. Die 40-Jährige steht im Kebab-Haus „Efe“ im Wohnviertel der scheidenden Ministerpräsidentin hinter dem Verkaufstresen. „Ich bin etwas Besonderes und ihr seid da unten, das gab es bei ihr nicht“, erzählt die in Deutschland geborene Frau mit türkischen Wurzeln. Ihr Wohnhaus liegt schräg gegenüber der Doppelhaushälfte der Familie Kraft. „Als Nachbarin ist sie super.“

In der Bäckerei Hemmerle nebenan, wo auch Krafts Bodyguards ab und an Mittagspause gemacht haben, sitzen Wilfried und Erika Wittholz beim Kaffee zusammen. Nett und bürgernah sei sie, und ganz natürlich geblieben. Vielleicht habe sie ein bisschen lange an ihren Ministern festgehalten, wie zum Beispiel an Ralf Jäger, glaubt Wilfried Wittholz (61). „Aber in Mülheim hat sie einen guten Ruf.“

Das bestätigt auch Heinz-Gerd Frank, der gerade draußen auf dem Bürgersteig unterwegs ist. Der 80-Jährige war früher auch schon mal Wahlhelfer im Wahllokal. „Frau Kraft hat immer ein paar persönliche Worte gewechselt.“ Und Inge Thiele (68), die gerade vor einer Fußpflegepraxis eine Zigarette raucht, ist vor allem die Menschlichkeit in Erinnerung geblieben, die Kraft nach dem Loveparade-Drama gezeigt habe. „Das konnte man von anderen nicht gerade behaupten. Ich hätte sie lieber als Ministerpräsidentin behalten.“

Mag die Partei im Augenblick betreten schweigen, in Mülheim lässt niemand Hannelore Kraft fallen. Vielleicht ist diese gegenseitige Treue der Grund, dass die seit zwei Wochen 56-Jährige Zeit ihres Politikerlebens alle bundespolitischen Ambitionen abgelehnt hat. „Ich fand das eine souveräne Entscheidung“, sagt Dieter Spliethoff. Der Sozialarbeiter der Caritas ist da SPD-Ortsvereinsvorsitzender, wo Hannelore Kraft aufgewachsen ist und heute auch wieder wohnt: in Mülheim-Dümpten. In dieser Woche soll er im Stadtrat auch den Fraktionsvorsitz übernehmen.

Spliethoff kann sich noch an die gemeinsamen Anfänge in der Mülheimer SPD erinnern. In die Kommunalpolitik habe Kraft nie gewollt. „Sie hat schon damals gesagt: Mein Ziel ist das Land. Das fand ich bemerkenswert.“ Der 61-Jährige lobt sie als „treue und klare Frau“. Auch ihr Umgang mit der krachenden Wahlniederlage sei „extrem souverän“ gewesen: „Das ist hier überall positiv aufgenommen worden.“ Dass die Ursachen für den Machtverlust an Hannelore festgemacht werden: In Mülheim sieht Spliethoff dafür jedenfalls keinerlei Indizien.

Nur auf die vermeintlich guten Stimmungsbilder im Wahlkampf gibt er inzwischen gar nichts mehr: „Das ist doch alles Kokolores. Die Stimmung am Wahlstand ist immer gut. Aber im stillen Kämmerlein entscheiden sich die Leute dann anders. Darum ist es auch so schwierig geworden, vom Bürgerdialog zu sprechen.“

Dümpten ist mit 280 Mitgliedern noch der größte der zehn Ortsvereine innerhalb der Mülheimer SPD. Thyssen, Siemens, Mannesmann — Tausende Arbeiter fanden hier Wohnraum. Es gab Stimmbezirke, da hatte die SPD früher 75 Prozent. Das war einmal. Der Unterbezirk Mülheim ist von mehr als 4000 auf heute noch 1800 Mitglieder geschrumpft. Die Stimmung nach der Niederlage, so Spliethoff, sei „nicht euphorisch, aber gelassen. Das Land gehört nicht uns.“

Zu den Gewinnern gehört jetzt Heiko Hendriks, obwohl er persönlich verloren hat. Der CDU-Gegenkandidat von Hannelore Kraft war 2014 in den Landtag nachgerückt, aber durch den Wahlerfolg seiner Partei bei den Direktkandidaten zog sein Listenplatz diesmal nicht mehr. Im persönlichen Umgang stellt auch er seiner Kontrahentin ein gutes Zeugnis aus: „Ich kannte sie schon, bevor sie 2000 in den Landtag einzog. Und als ich nachgerückt bin, hat sie mir nicht nur gratuliert, sondern sich auch einige Monate später noch einmal nach meinem Befinden erkundigt.“ Das persönliche Verhältnis zu Kraft sei „sehr angenehm“.

Womöglich braucht die SPD auf Landes- und Bundesebene jetzt auch erst mal nur etwas Abstand. Das glaubt jedenfalls der Ortsvereinsvorsitzende Alexander Böhm: „Die Partei wird erst in ein bis zwei Jahren sehen, was sie an Hannelore Kraft hatte.“