Missbrauchsfälle in der Katholischen Kirche „Damit es aufhört“

DÜSSELDORF · Matthias Katsch war beteiligt am Aufdecken des Missbrauchs von Jugendlichen in der Katholischen Kirche. Er sieht sich und seine Leidensgenossen längst nicht am Ziel.

Matthias Katsch bei seinem Vortrag, im Hintergrund ein Bild der Kuppel des Petersdoms.

Foto: Eva Creutz

Es ist ein ruhig vorgetragener Vortrag. Die Zuhörer im Düsseldorfer „Salon des Amateurs“ wundern sich, wie der Mann am Rednerpult so sachlich bleiben kann. Angesichts all dessen, was er da berichtet. Und zum Abschluss sogar, nach all den Abgründen, in die er hat blicken lassen, noch eine rührend-hoffnungsvoll stimmende Begebenheit erzählt. Sie ist am Ende dieses Textes aufgeschrieben.

Der Mann heißt Matthias Katsch. Der humanistische „Düsseldorfer Aufklärungsdienst“ hat den Mitbegründer des „Eckigen Tisches“ eingeladen. Diese Betroffenen-Organisation bohrt seit Jahren dicke Bretter, damit sich etwas bewegt bei der politischen, gesellschaftlichen und juristischen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche.

Katsch gehört zu denjenigen, die den Mantel des Schweigens und des Vertuschens vor nunmehr 13 Jahren gelüftet haben. Damals kam ans Licht, was in der Berliner Jesuitenschule Canisius-Kolleg jahrelang passiert war. Sein eigenes Martyrium hatte der heute 59-Jährige lange verdrängt. Erinnerungen, die, so sagt er es, „abgelegt waren wie in einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden“.

Die Täter gingen strategisch vor, nutzten ihre Machtstellung

Mit Mitte 40, so erinnert er sich, sieht er den Film „Sleepers“ und bricht dabei in Tränen aus. Zunächst ohne den Grund dafür nachvollziehen zu können. In dem Film geht es um Missbrauch an New Yorker Jungen durch Aufseher in einer Besserungsanstalt. Katsch kommen Bilder der eigenen Vergangenheit in Erinnerung. Aus der Zeit um das Jahr 1977 herum, als er 13 oder 14 war. Der studierte Philosoph, Politik- und Betriebswirtschaftler und heutige Management-Trainer erspart es sich und dem Publikum, Details des Missbrauchs durch zwei Jesuitenpatres zu schildern. „Sie wissen, was Gewalt ist, was Missbrauch ist“. Dafür analysiert er, wie es sein kann, dass die Erlebnisse so lange für ihn „wie hinter einer Milchglasscheibe“ lagen. Und wie es überhaupt zu den Übergriffen kommen konnte.

„Die Täter gingen strategisch vor, ich war lange Zeit der Meinung, ich bin allein mit dem, was ich erlebt habe. Ich brauchte das Verständnis eines Erwachsenen, um rückblickend die Vorgehensweise zu durchschauen. Aber damals konnte ich das nicht, ich konnte nicht weglaufen.“ Da sei das religiöse Leben, die Machtstellung der Priester ausgenutzt worden. Eingefädelt bei der Beichte. Katsch fragt: „Welchem anderen Erwachsenen würde man erlauben, mit einem präbubertären Kind über Sexualität zu sprechen. Das machen sie nämlich, wenn es um das sechste Gebot geht: ,Du sollst nicht ehebrechen‘.“ Da kann es passieren, dass das Thema ausgeweitet wird, dass es dann auch um Selbstbefriedigung geht. Die „Sünde“, die auf die Schultern des Jungen gelegt wird. Was ein Priester daraus mache und in seinem Fall gemacht habe, erzählt Katsch nicht an diesem Abend. Wohl aber seine Analyse, wie all das unbemerkt von Eltern und Gesellschaft ablaufen konnte.

„Da war die Scham, dass ich so dumm war, dass ich nicht Nein gesagt habe. Die Schuld, weil Sexualität doch sündhaft sei, wie man uns einredete.“ Die Ohnmacht, die Wut, und dann das Schweigen angesichts des übermächtigen Gegners. Dieser erwachsene Mann und seine Macht, die schon strukturell in der Katholischen Kirche angelegt sei. Katsch zeigt ein Bild der Kuppel des Petersdoms in Rom. „Ein Symbol für die Herrschaftsarchitektur. Das Ziel: Den Menschen klein zu machen. Ich kann da nicht reingehen, ohne mich klein und ohnmächtig zu fühlen“, sagt Katsch. „Ein Gefühl der Überwältigung.“ Wie damals, als er ein Junge war.

Das Zusammentreffen mit dem Peiniger von damals

Auch nachdem der Film „Sleepers“ und der dadurch ausgelöste Weinkrampf Erinnerungen freigelegt hat, dauert es noch Jahre, bis Katsch ins Handeln kommt. Auslöser ist ein zufälliges Zusammentreffen mit einem der beiden Peiniger von damals. Er erkennt ihn sofort wieder. Diesen Mann mit dem einen Auge, das immer geradeaus blickt, wenn sich das andere bewegt. Und wieder ist Katsch wie in einer Starre, als dieser Mann ihn mit leicht spöttischem Blick nach seinem Werdegang nach der Schulzeit befragt. Als er nach Hause geht, sind Erinnerungsstücke auf einmal wieder da. „Ich stand da vor der verstaubten Kiste mit den Erinnerungen und verstand auf einmal, jetzt, als Erwachsener, die ganze Geschichte.“

Aber es sind nur Bruchstücke der Erinnerung. Er weiß, dass er andere Betroffene für den Austausch finden muss. Um objektivierbare Anhaltspunkte zu haben. Er findet sie, wendet sich mit ihnen an den Rektor des Canisius-Kollegs. Der startet einen Aufruf. Es melden sich weitere Betroffene, die Berliner Morgenpost titelt am 28.Januar 2010: „Canisius-Kolleg: Missbrauchsfälle an Berliner Eliteschule.“

Bundesweit kommt nun die Sache medial ins Rollen. Weitere Fälle werden bekannt, weil sich die Betroffenen melden. Weil auch ihnen klar wird, dass sie nicht die Einzigen sind. Doch es soll noch ganze 13 Jahre dauern, bis das Landgericht Köln im vergangenen Juni einem Missbrauchsopfer im Prozess gegen das Erzbistum Köln 300 000 Euro Schmerzensgeld zuspricht.

Ein Fall, der Matthias Katsch Mut macht. Doch seine Verbitterung bleibt.  Das Urteil sei ein Meilenstein, aber die wahre Dimension der Verbrechen sei längst nicht aufgearbeitet. Insbesondere die Rolle der Katholischen Kirche (auf diese bezieht sich die Aktivität des Eckigen Tisches), die institutionelle Dimension sei nicht aufgeklärt. Das Versetzen von Priestern in andere Gemeinden, wo sie erneut ihre Taten begehen konnten. Katsch sagt: „Bis heute hat es kein einziges Ermittlungsverfahren gegen einen Vorgesetzten wegen Vertuschung oder Strafvereitelung gegeben.“

„Die Ohnmacht wich einem Moment der Ermächtigung“

Und doch hat er Hoffnung. Katsch erzählt von dem „Missbrauchsgipfel“, zu dem Papst Franziskus 2019 Bischöfe aus aller Welt nach Rom zusammengerufen hatte. Längst hatten sich da auch Betroffene in einer internationalen Vereinigung „Ending Clergy Abuse“ (den priesterlichen Missbrauch beenden) zusammengeschlossen. Katsch ist einer der Betroffenen, die zwar nicht bei dem Treffen dabei sein dürfen. Aber tagelang stehen sie im Fokus internationaler Medien. Dann, nach einer Woche, haben sie eine Demonstration angemeldet. Erlaubt wird sie nur in deutlicher Entfernung zum Vatikan. Als Stehversammlung. Doch das wollen sie sich nicht gefallen lassen. Katsch erzählt: „Wir gehen mit unseren Bannern auf die Polizisten zu. Einer kommt auf mich zu: Drängt nicht, wir werden euch führen, sagt er. Und ein anderer sagt: Das ist das Mindeste, was wir für euch tun können.“

Was folgt, ist ein von einem Journalistentross begleiteter und von Polizisten eskortierter Marsch in Richtung Engelsburg. Katsch ist euphorisiert: „Im hellen Sonnenlicht durch die bewegte Innenstadt zu marschieren, unsere Forderungen herauszubrüllen, zu springen, zu klatschen, war eine zutiefst sinnliche körperliche Erfahrung. Vielleicht löste sich da etwas von der Scham, der Schande, der Schuld. Und die Ohnmacht wich einem Moment der Ermächtigung.“