Konflikte Nato-Generalsekretär Stoltenberg: „Nichts wird so sein wie zuvor“
Interview · Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Europa verändert wie wohl kaum ein anderes Ereignis seit dem Fall der Mauer im Jahr 1989. Der Generalsekretär der Nato ruft zum Jahreswechsel dazu auf, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren - auch mit Blick auf Waffenlieferungen.
Für die Nato ist der Umgang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine Tag für Tag ein Ritt auf der Rasierklinge. Auf der einen Seite will das mächtigste Militärbündnis der Welt aktiv dazu beitragen, dass Kreml-Chef Wladimir Putin mit seiner Invasion scheitert. Auf der anderen Seite gilt es aus Sorge vor einem neuen Weltkrieg eine direkte militärische Konfrontation mit Russland zu verhindern. Kann beides gelingen? In einem Interview der Deutschen Presse-Agentur erklärt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (63), warum militärische Unterstützung für die Ukraine aus seiner Sicht der schnellste Weg zum Frieden ist. Und er erinnert sich, wie er den Tag erlebte, der in Europa so viel veränderte.
Frage: Herr Generalsekretär, am frühen Morgen des 24. Februar hat Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen. Erzählen Sie, wie Sie diesen Morgen erlebt haben? Wurden sie geweckt oder waren sie wach als es losging?
Antwort: Es war eine sehr kurze Nacht. Als ich ins Bett ging, wusste ich, dass sie einmarschieren würden, also dachte ich, es wäre gut, ein paar Stunden Schlaf zu haben. Aber es waren nicht viele Stunden bis der Anruf meines Büroleiters kam, dass die Invasion begonnen hat.
Frage: Wie ging es dann an diesem Morgen weiter?
Antwort: Ich habe diesen unverantwortlichen Angriffskrieg sofort verurteilt und den Nordatlantikrat einberufen. Dort haben wir die Verteidigungspläne der Nato aktiviert und begonnen, zusätzliche Kräfte in den östlichen Teil des Bündnisses zu entsenden, um eine Eskalation des Krieges zu verhindern. Alle hier im Hauptquartier wussten genau, was zu tun war - weil wir gut vorbereitet waren, weil es sich um eine lange vorhergesagte Invasion handelte. US-Präsident Joe Biden, ich und viele andere hatten viele Monate davor gewarnt.
Frage: Sie wussten, was passieren würde. Warum konnte Russland nicht von der Invasion abgehalten werden?
Antwort: Wir haben versucht, Russland von der Umsetzung der Pläne abzubringen. Noch im Januar haben wir im Nato-Russland-Rat einen diplomatischen Versuch unternommen, Russland davon zu überzeugen, die Pläne zu ändern. Das Treffen war eine Folge des Schreibens von Präsident Putin an die Nato mit konkreten Forderungen. Wir haben mit unseren Vorschlägen reagiert und versucht, den politischen Prozess weiterzuführen.
Ich erinnere mich daran, dass die Russen uns damals gesagt haben, sie hätten keine Pläne, in die Ukraine einzufallen. Wir wussten, dass das Gegenteil der Fall ist. Aber natürlich können Pläne bis zu ihrer Umsetzung geändert werden - bis die Panzer rollen, die Truppen marschieren und die Bomben fallen. Wir haben bis zuletzt an die Diplomatie geglaubt, aber Präsident Putin hatte kein Interesse an einer friedlichen Lösung.
Frage: Haben Sie am 24. Februar erwartet, dass sich die Ukrainer so lange verteidigen können?
Antwort: Natürlich waren wir unsicher. Aber wir wussten, dass die Ukrainer viel handlungsfähiger sind als 2014 - als der Krieg begann. Seitdem haben die Nato und ihre Mitgliedstaaten, insbesondere die USA, Kanada und Großbritannien, die Ukraine mit Ausbildungsprogrammen und Ausrüstung maßgeblich militärisch unterstützt. Das hat dazu beigetragen, dass die ukrainischen Streitkräfte im Februar 2022 viel größer, viel besser ausgestattet, viel besser ausgebildet und viel besser geführt waren als 2014. Und das erklärt auch, warum sie sich viel besser verteidigen konnten als acht Jahre zuvor.
Frage: Die Ukraine hat in den letzten Monaten zunehmend militärische Ziele in Russland angegriffen. Unterstützen Sie diese Strategie als Nato-Generalsekretär? Oder würden Sie der Ukraine vor weiteren Angriffen dieser Art eher abraten, weil niemand weiß, wie die Reaktion aussehen würde?
Antwort: Wir unterstützen die Ukraine beim Recht auf Selbstverteidigung. Das ist ein Recht, das in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist. Jedes Land hat das Recht, sich zu verteidigen. Auch die Ukraine. Wir müssen auch den Kontext sehen - nämlich massive russische Angriffe auf zivile Infrastruktur, die darauf abzielen, ukrainischen Zivilisten im Winter Wasser, Heizung und Strom zu nehmen. Präsident Putin versucht, aus dem Winter eine Waffe gegen Zivilisten zu machen. Das ist kein Angriff auf militärische Ziele mit zivilen Opfern. Das ist ein massiver Angriff auf Zivilisten, weil Millionen Ukrainer dieser grundlegenden Leistungen beraubt werden.
Frage: Wenn sich herausstellt, dass Angriffe auf militärische Ziele in Russland der einzige Weg sind, um Russland zum Aufgeben zu zwingen - würden Sie sich dafür einsetzen, dass die Nato-Staaten der Ukraine Fähigkeiten zur Verfügung stellen, damit sie militärische Ziele in Russland wirksam bekämpfen können?
Antwort: Es mag paradox klingen, aber militärische Unterstützung für die Ukraine ist der schnellste Weg zum Frieden. Wir wissen, dass die meisten Kriege am Verhandlungstisch enden - wahrscheinlich auch dieser Krieg - aber wir wissen, dass das, was die Ukraine in diesen Verhandlungen erreichen kann, untrennbar von der militärischen Situation abhängt. Wenn Sie also eine friedliche Verhandlungslösung wollen, die gewährleistet, dass die Ukraine als unabhängiger demokratischer Staat überlebt, dann ist es der beste Weg, sie militärisch zu unterstützen - denn so kann Präsident Putin davon überzeugt werden, dass er sein Ziel, die Kontrolle über die Ukraine zu übernehmen, nicht erreichen wird.
Nato-Verbündete haben der Ukraine übrigens bereits Waffensysteme mit großer Reichweite geliefert - so zum Beispiel Himars-Raketenwerfer und Artillerie mit großer Reichweite. Auch Drohnen und gepanzerte Fahrzeuge werden zur Verfügung gestellt.
Frage: Wäre es auch in Ordnung, der Ukraine Mittelstreckenraketen zur Verfügung zu stellen?
Antwort: Zu den spezifischen Systemen gibt es einen ständigen Dialog zwischen Verbündeten und mit der Ukraine.
Frage: Ist es eine rein nationale deutsche Entscheidung, Kampfpanzer oder Patriot-Systeme in die Ukraine zu schicken?
Antwort: Wir haben zu diesen ganzen Fragen gute Konsultationen in der Nato und im US-geführten Ramstein-Format. Natürlich fordere ich die Verbündeten auf, mehr zu tun. Es liegt in unser aller Sicherheitsinteresse, dafür zu sorgen, dass sich die Ukraine durchsetzt und Putin nicht gewinnt. Aber es geht nicht nur darum, mehr Waffensysteme hinzuzufügen. Noch wichtiger ist vielleicht, dass es für alle bereits vorhandenen Systeme ausreichend Munition gibt. Der Bedarf an Munition und Ersatzteilen ist enorm.
Frage: Sie haben vor einigen Wochen gesagt, Russland versuche, den Krieg einzufrieren, um im Frühjahr eine weitere Offensive vorzubereiten. Was deutet darauf hin?
Antwort: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Präsident Putin sein übergeordnetes Ziel dieses Krieges geändert hat. Dieses lautet, die Ukraine zu kontrollieren. Sie haben viele neue Truppen mobilisiert. Viele von ihnen trainieren inzwischen. Sie haben die Bereitschaft gezeigt, schmerzvolle Verluste zu erdulden, und sie wenden sich an andere autoritäre Regime wie den Iran, um mehr Munition und mehr Waffen zu bekommen. Das ist nicht vorbei. Kriege sind unberechenbar, aber wir müssen uns auf einen langen Weg und auch auf neue russische Offensiven vorbereiten. Wir sollten Russland nicht unterschätzen
Frage: Kanzler Olaf Scholz sagte jüngst, dass eine wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland wieder möglich sein könnte, wenn der Kreml den Krieg in der Ukraine beendet. Sehen Sie das auch so?
Antwort: Nichts wird so sein wie zuvor. Ein Ende des Kriegs kann nicht bedeuten, völlig zur Normalität zurückzukehren. Welche Art von Beziehungen mit Russland es in der Zukunft geben wird, wird vom Verhalten Russlands abhängen. Und ich glaube, es ist schwer vorstellbar, dass wir am Ende noch einmal so stark von strategisch wichtigen Gütern wie Energie abhängig sein werden. Denn die Abhängigkeit von Russland hat Angriffspunkte geschaffen, die Russland jetzt versucht zu nutzen, um uns von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten. Die Abhängigkeit von Gas hat uns verwundbar gemacht.
ZUR PERSON: Der Norweger Jens Stoltenberg (63) ist seit Oktober 2014 Generalsekretär der Nato. Zuvor war er insgesamt fast zehn Jahre Ministerpräsident seines Heimatlandes. In dieser Funktion erlebte er auch die Anschläge eines rechtsextremen Massenmörders in Oslo und auf Utøya im Sommer 2011. Stoltenberg ist Vater zwei erwachsener Kinder. Zu seinen Hobbys zählen Skilanglauf und Radfahren.