Brexit-Beauftragter für NRW Personalie Merz: Laschets Lehre verlorener Jahre

SPD und Grüne rätseln, ob die Personalie Merz das Zeug für ein Skandälchen bietet. Sie sollten die Landtags-Bibliothek nutzen.

Friedrich Merz übernimmt Aufgaben für die Landesregierung NRW. Der ehemalige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion wird ab dem 1. Januar Beauftragter für die Folgen des Brexits und die transatlantischen Beziehungen.

Foto: Bodo Marks

Düsseldorf. Die Lösung vieler ungelöster Rätsel, die die Personalentscheidungen Armin Laschets offenbar für SPD und Grüne darstellen, kann man in der Bibliothek des Landtags nachlesen. Zu finden ist sie dort am Standort POL fh 26. Es handelt sich um eine Studie, die als Band 45 der Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte vor sieben Jahren im Düsseldorfer Droste-Verlag erschienen ist; drei Bände, wuchtige 3583 Seiten. Titel: „Verlorene Jahre? Die nordrhein-westfälische CDU in der Opposition 1975 - 1995“.

Der Ministerpräsident soll diese drei Bände nahezu auswendig können. Ihre 3583 Seiten erzählen eine Geschichte, die in der CDU lange nicht erzählt werden durfte, die in der SPD niemand wahrhaben wollte, deren Klappentext die FDP lediglich quergelesen und die bei den Grünen überhaupt niemanden interessiert hat. Es ist die Geschichte einer Partei, die ein durch und durch christdemokratisches Land, das niemals Stammland der SPD war, aufgrund von Rücksichtslosigkeit, Intrigen und Dummheit an die Sozialdemokraten verloren hat.

Die Hauptdarsteller dieser Geschichte sind gute Menschen und Visionäre, Halbverrückte und Fastkriminelle, Größenwahnsinnige, Selbstverliebte und Beinahe-Depressive — kurz, alles was die nordrhein-westfälische CDU in ihren Chaos-Jahren aufzubieten hatte. Die Geschichte erzählt von dem zu Unrecht vergessenen Heinrich Köppler, seinem Machtkampf mit Kurt Biedenkopf, Biedenkopfs weiteren Kämpfen mit dem unglücklichen Bernhard Worms und dem selbsternannten Krefelder „Kennedy vom Niederrhein“, Dieter Pützhofen, der Ära Norbert Blüm und seinem Triumvirat mit Herbert Reul und Helmut Linssen, falschen Zielen und enttäuschten Hoffnungen; was nach 1995 kam, weiß der Ministerpräsident aus eigener Mitwirkung.

Für jemanden wie Armin Laschet, der schneller zu denken und begreifen gewohnt ist als Helmut Kohl kauen konnte, müssen sich diese drei Bände lesen wie eine psycho-geografische Generalstabskarte aller Fettnäpfe, landsmannschaftlicher Fallstricke, verbandlicher Minenfelder, tickender Zeitbomben, strategischer Hinterhalte und geheimer Aufmarschpläne innerparteilicher Gegner, die einem Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten in NRW blühen können. Und entsprechend agiert der stets freundlich lächelnde Laschet: Er bindet alles ein, was relevant sein könnte und irgendwie einzubinden ist.

Der Autor der Studie — Guido Hitze, Jahrgang 1967, Doktor phil., Studium der Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal und der Kath. Universität Eichstätt, Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung — fiel Laschet schon sehr früh auf. Als Laschet 2012 den Vorsitz des Landesverbands übernahm, holte er Hitze aus der Landeszentrale für politische Bildung in die CDU-Zentrale an der Wasserstraße.

Da verstaubte die „Verlorene Jahre“-Studie, an der Hitze gut zehn Jahre gearbeitet hat, längst ungelesen in den meisten Regalen ihrer desinteressierten Empfänger. Nicht so bei Laschet. Pünktlich zu Hitzes Dienstantritt fielen ihm zwei, drei bemerkenswerte politische Analysen irgendwie wohl aus der Aktentasche. Darunter eine knapp 20-seitige mit „schonungslos“ noch freundlich umschriebene Beschreibung der katastrophalen Niederlage der NRW-CDU und ihre Kandidaten Norbert Röttgen bei der Landtagswahl 2012.

Selbst wer Hitze nicht kannte, musste ahnen: da schreibt ein Insider — und zwar einer, der wundgerieben ist von dem ewigen, selbstverschuldeten Verharren der CDU auf dem zweiten Platz. Bevor der Neusser Historiker als Referent bei der Landeszentrale für politische Bildung anheuerte, war er lange bei der Konrad-Adenauer-Stiftung beschäftigt. Und: 2007 und 2008 war er bei Jürgen Rüttgers für politische Grundsatzfragen zuständig.

Eine der öffentlich gewordenen Einschätzungen Hitzes ging der Partei dann — zumindest im Januar 2013 — aber doch zu weit: Hitze sprach sich klar gegen die damalige Doppelspitze aus Armin Laschet als Parteivorsitzendem und Karl-Josef Laumann als Chef der Landtagsfraktion aus. Beide Jobs, so Hitze, gehörten selbstverständlich in eine Hand, es brauche einen „Neuanfang mit einer echten Landeslösung in Gestalt einer einheitlichen Partei- und Fraktionsführung durch eine Person“. Und: „Ein personeller Dualismus ist unbedingt zu vermeiden, da Partei und Landtagsfraktion synchronisiert werden müssen und ein latent bis offen vorhandener Machtkampf zwischen Partei- und Fraktionsvorsitzendem mit Blick auf die Spitzenkandidatur 2017 die Reorganisation der CDU massiv erschweren würde.“

Die damalige Parteisprecherin fühlte sich bemüßigt zu erklären, die fragliche Analyse sei eine „olle Kamelle“, zudem eine private Arbeit und überhaupt tauchten in den offiziellen Wahlanalysen „Bewertungen zur Zusammenarbeit des Landesvorsitzes und des Fraktionsvorsitzes nicht mehr auf“. Die Hauptaufgabe des neuen Abteilungsleiters sei die Vorbereitung der wichtigen Grundsatzprogrammarbeit.

Bis heute leitet Hitze die Abteilung „Politik & Strategie“ in der CDU-Landesgeschäftsstelle. Hitze ist neben Staatskanzleichef Nathanael Liminski, Mark Speich, dem Leiter der Berliner NRW-Vertretung und Regierungssprecher Christian Wiermer einer der wichtigsten Laschet-Berater im Hintergrund.

Die ehrenamtliche Einbindung Friedrich Merz’ ist typisch für Laschet: Sie kostet (politisch) gar nichts, hat aber hohen Symbolwert sowohl in Merz’ Heimat Westfalen als auch bei allen CDU-Anhängern, die an den 61-Jährigen Juristen noch immer als den jungen Bierdeckel-Steuererklärer denken, der eines der vielen Merkel-Opfer wurde. Indem Laschet Merz einbindet, kann er westfälische Merkel-Distanz bei sich verbuchen, ohne selbst frech zur Kanzlerin werden zu müssen und (das dürfte er noch mehr schätzen) sich allzu sehr mit Jens Spahn beschäftigen zu müssen.

Hinzu kommt: Friedrich Merz tut Laschet seit Monaten den Gefallen, als Wirtschaftsexperte durch Gesprächszirkel für Begüterte und Begünstigte mit der Botschaft zu ziehen, keine eigene politische Agenda mehr verfolgen zu wollen. Stattdessen redet Merz viel über die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen trotz Trump, oder was der Brexit wirklich bedeutet: „Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich sehr auf die Londoner City und die Finanzbranche“, so Merz aktuell in der „Wirtschafts-Woche“.

Im Gespräch mit dem Magazin machte Merz deutlich, was ihn als Berater in der Staatskanzlei so wertvoll macht: „Für die produzierende Industrie sind die praktischen Probleme eher noch größer. Viele Unternehmen der ,Realwirtschaft’ wissen noch gar nicht, wie sie ihre Wertschöpfungsketten über den Ärmelkanal aufrechterhalten können, wie sie künftig von einem auf den anderen Markt kommen. Viele Politiker glauben, sie könnten noch bis 2019 verhandeln. Aber der Zug fährt jetzt aus dem Bahnhof. Die Unternehmen müssen jetzt Standortentscheidungen treffen.“

Viel mehr wird Merz auch in der Staatskanzlei als ehrenamtlicher Berater gar nicht sagen müssen. So ähnlich, wie Laschets Bosbach-Kommission zur Inneren Sicherheit bis heute nicht ein einziges Mal tagen musste, um bereits Wirkung zu entfalten. Und bei all dem denkt Laschet in einem weit größeren Maßstab als seine Vorgängerin. Auch das finden SPD und Grüne in der Landtagsbibliothek, Standort: M 49589. Titel: „Europa im Schicksaljahr“. Herausgeber und Mitautor: Armin Laschet.