Rechtsextremismus im Osten: Was der Bericht zum „Stand der Einheit“ verschweigt

Einmal im Jahr verkündet die Bundesregierung, wie es um die Einheit steht. Im Bericht 2017 kommt ostdeutscher Rechtsextremismus nicht vor, eine Studie dazu wurde zurückgezogen.

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Berlin. Annaberg-Buchholz. Brandenburg an der Havel. Bitterfeld. Finsterwalde. Quedlinburg. Torgau. Wolgast. Wo auch immer in Ostdeutschland die Bundeskanzlerin in diesen Wochen zum Wahlkampf anreist, stören ortsansässige Schreihälse sowie von AfD, NPD, Identitären und rechtsradikalen Pegida-Ablegern herbeigekarrtes Gesindel mit Trillerpfeifen, Autohupen und ohrenbetäubender Brüllerei die Auftritte der CDU-Vorsitzenden. Seit Jahren geht das jetzt so. Hau ab! Merkel muss weg! Volksverräterin!

Rechtsradikale (Archivbild).

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Neu ist der blanke, triefende Hass, der Merkel jetzt entgegenschlägt — und mit nichts vergleichbar ist, was sich bei Gegendemonstrationen in westlichen Bundesländern abspielt. Stellten den bisherigen Tiefpunkt des demokratischen Kulturverlustes die rechten Störungen bei den Einheits-Feierlichkeiten am 3. Oktober 2016 in Dresden dar, so nähert sich das Konfrontations-Niveau inzwischen der Stimmung von Ausschreitungen.

Erklärungen dafür sollten sich eigentlich im Jahresbericht der Bundesregierung zum „Stand der Deutschen Einheit“ finden, den die Ostbeauftragte Iris Gleicke am 6. September in Berlin vorgestellt hat. Doch das ist nicht der Fall.

Seit 1997 gibt es diesen Bericht, aber in den meisten Jahren geht seine Veröffentlichung im Nachrichten-Geschehen einfach unter. Das änderte sich, als es 2015 im Osten wieder vermehrt zu Angriffen, Brandanschlägen und tagelangen Belagerungen von Flüchtlings-Unterkünften kam: Meißen, Freital und im August 2015 schließlich Heidenau, wo Rechtsextremisten schwerste Ausschreitungen begingen. In Heidenau sprach Sigmar Gabriel erstmals von „Pack“ und kündigte als Antwort „Polizei, Staatsanwaltschaft und nach Möglichkeit für jeden, den wir erwischen, Gefängnis“ an.

Als dann im Februar 2016 ein Mob in Clausnitz eine Asylunterkunft blockierte, wobei Flüchtlinge in einem Bus um ihr Leben fürchteten, und in Bautzen Anwohner und Schaulustige offene Schadenfreude beim Brand einer Unterkunft zeigten, platzte sogar Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) der Kragen: „Das sind keine Menschen, die sowas tun. Das sind Verbrecher“, sagte er in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe.

Etwas analytischer äußerte sich NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), damals noch Oppositionsführer im Düsseldorfer Landtag: Für manche Bewohner von Clausnitz wären nach 1990 wohl Integrationskurse besser gewesen, so Laschet bei Twitter. Und gegenüber der „Welt“ bekräftigte er: „In Bautzen und Clausnitz ist die Integration mancher Deutscher in unsere Leitkultur, die für Humanität, Respekt und Anstand steht, gescheitert.“ Der Chemnitzer Polizeipräsident Uwe Reißmann dagegen wollte in Clausnitz gegen die Flüchtlinge im Bus ermitteln: Sie hätten den Nazi-Mob provoziert.

Das alles reichte, um Iris Gleicke volle Aufmerksamkeit zu bescheren, als sie im September 2016 ihren Jahresbericht präsentierte. Mit der Feststellung „Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Intoleranz stellen eine große Gefahr für die gesellschaftliche, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“ schaffte es die Ostbeauftragte sogar in die Nachrichten. Ihr Bericht führte unumwunden aus, dass sich „in Relation zur Bevölkerungszahl eine Häufung von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten in den ostdeutschen Ländern“ finde. Dabei seien „Radikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft sichtbar“.

Diese Phänomene seien bei Weitem „nicht ausschließlich auf aktuelle Entwicklungen zurückzuführen. Es handelt sich hier auch um langfristig wirkende Einstellungsmuster und daraus resultierende Herausforderungen.“ Die fremdenfeindliche Gewalt habe nichts mit dem Ausländeranteil zu tun: „In den Blick zu nehmen sind weitere Faktoren, wie etwa Schrumpfung und Abwanderung in ihren Auswirkungen auf Vereins- und Engagementsstrukturen. Ländliche und strukturschwache Regionen sind hiervon besonders betroffen.“ Dies solle daher ein Schwerpunkt einer Studie zu den Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland sein.

Seit 2014 ist der „Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer“ nicht mehr dem Innenministerium zugeordnet (Beauftragte 2002 bis 2013: Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee, Thomas de Maizière und Christoph Bergner). So kam Iris Gleicke (SPD) im Wirtschaftsministerium an den Job, wo Sigmar Gabriel sie im Dezember 2013 zur Parlamentarischen Staatssekretärin gemacht hatte. Im Westen praktisch unbekannt, war die 53-Jährige in der thüringischen SPD lange eine Größe: Seit 1990 im Bundestag, erregte sie 2001 Aufsehen mit einem Essay („Am Ende der Dankbarkeit“), in welchem sie ihrer Partei klarmachte, dass die Bundestagswahl 1998 im Osten gewonnen worden sei — und dort auch wieder verloren gehen könne.

Nach dem erfrischend klaren Bericht 2016 geriet Iris Gleicke massiv unter Beschuss. Im Oktober vergangenen Jahres sah sie sich zu der öffentlichen Klarstellung genötigt, es gehe nicht darum, „Ostdeutschland schlechtzureden und den Ostdeutschen zu schaden. Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist weder rechtsradikal noch fremdenfeindlich. Ich bin selbst Ostdeutsche. Ich bin stolz darauf, was in Ostdeutschland in den vergangenen 26 Jahren geleistet wurde. Aber die Zahlen gibt es, und man muss die Fakten benennen und die Gefahren für die ostdeutsche Wirtschaft ansprechen. Denn gegensteuern müssen wir jetzt.“

Gleickes strategischer Fehler: Sie hatte bereits im Juli erklärt, 2017 nicht mehr für den Bundestag kandidieren zu wollen; das macht in Konflikten unabhängiger, aber auch einsamer und schutzloser. Als die angekündigte Studie „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland“, erarbeitet an Franz Walters Institut für Demokratieforschung in Göttingen, am 18. Mai in Berlin präsentiert wurde, hagelte es vom ersten Tag an Kritik aus Reihen der CDU. Michael Kretschmer, Generalsekretär der CDU Sachsens, griff „die so genannte ‚Ost-Beauftragte’ der Bundesregierung“ scharf an. Man müsse sich fragen, ob sie ihren Job überhaupt richtig verstehe.

Die Studie macht namentlich die CDU Sachsens von Kurt Biedenkopf mitverantwortlich für ein Rechtsextremismus und Fremdenhass begünstigendes politisches Klima, „weil insbesondere in Sachsen eine spezifische, von den dortigen Vertretern der CDU dominierte politische Kultur wirkt, die das Eigene überhöht und Abwehrreflexe gegen das Fremde, Andere, Äußere kultiviert“. Die Göttinger kamen zu dem Ergebnis, dass die Sozialisierung in der weitgehend abgeschotteten DDR, ein weitverbreitetes „Gefühl der kollektiven Benachteiligung“ und mangelnde politische Bildung die Hauptursachen seien, warum Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten stärker ausgeprägt seien als im Westen.

Auch fühlten sich viele Ostdeutsche als Bewohner von Nazi-Hochburgen „gebrandmarkt“ — und das wiederum führe als Abwehr zu einer „Überhöhung“ der eigenen ostdeutschen Identität gegenüber Zuwanderern. Überraschend ist davon nichts. Im November 2016 hatte der von CDU-Landesregierung beauftragte „Sachsen-Monitor“ des Meinungsforschungsinstituts Dimap ergeben, dass 58 Prozent Sachsen meinen, Deutschland sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“, und 47 Prozent meinen, nach der Wiedervereinigung sei „vielfach neues Unrecht geschaffen“ worden.

Für die neue Studie hatten die Göttinger Forscher in drei Regionen von Mai bis Dezember 2016 knapp vierzig Einzelinterviews mit Personen vor Ort geführt, vornehmlich mit Beobachtern und Akteuren aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Hinzu kamen Gespräche in Fokusgruppen und mit Einwohnern der Orte. Dass die Namen der Gesprächsteilnehmer anonymisiert wurden (ein vollkommen übliches Verfahren), wurde ihnen nun als „wissenschaftlicher Fehler“ vorgehalten. CDU-Generalsekretär Kretschmer bezeichnete die Studie im Deutschlandfunk als „Machwerk“ auf einer „dünnen Forschungslage“ mit „pseudopsychologischen Diagnosen“ voll von „nicht belegten Stereotypen“.

Am 24. Mai, sechs Tage nach der Veröffentlichung, erklärte die Ostbeauftragte Gleicke standhaft: „Ich sehe keinen Grund für Zweifel an Inhalt und Methodik der Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Und ich bleibe dabei: Ursachenforschung ist wichtig und unentbehrlich.“ Im Stadtrat von Freital, das Gegenstand der Studie war, beantragten CDU und AfD gemeinsam am 29. Mai eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung der Studie. Begründung: „Wir stellen uns hinter die Freitaler Bürger und setzen uns dafür ein, dass das Bild Freitals in der Öffentlichkeit wieder gerade gerückt wird. Die Freitaler Bürger sind nicht die Sündenböcke für die Fehler der Asylpolitik.“

Zur Erinnerung: Im Umfeld permanenter rassistischer Proteste hatte sich 2015 in der 40 000-Einwohner-Stadt eine „Gruppe Freital“ entwickelt, gegen die wegen Gründung einer Terroristischen Vereinigung und versuchten Mordes noch bis 2018 vor dem Landgericht Dresden verhandelt wird.

Was auch immer hinter den Kulissen passierte, im Sommer kippte Gleicke schließlich um. Auf der Internetseite des Wirtschaftsministeriums heißt es nun: „Aufgrund von Mängeln, die das Göttinger Institut nicht entkräften konnte, hat sich die Ostbeauftragte Iris Gleicke am 26. Juli 2017 von der Studie distanziert. Sie wurde daher von der Homepage entfernt.“ Das Göttinger Institut verteidigte seine Studie und antwortete: „Dass das Ministerium sich dabei überstürzt davonmacht — ohne mit uns zuvor darüber auch nur ein Wort geredet zu haben — , ist bedrückend. Offenkundig scheint ein solches Verhalten in Wahlkampfzeiten für opportun gehalten zu werden. Aber ob man damit wirklich etwas gewinnt?“

Am 6. September nun stellte die Ostbeauftragte Gleicke ihren Bericht 2017 vor. Das Wort Fremdenhass kommt darin nicht mehr vor. Rechtsextremismus hat kein eigenes Unterkapitel mehr. Stattdessen heißt es lapidar, wo Menschen sich „abgehängt“ fühlten, könnten im Osten gesellschaftliche Spannungen „bis hin zu radikalen Einstellungen entstehen“. Nun lautet Gleickes Hauptbotschaft: „Förderung der strukturschwachen Regionen ist Voraussetzung für gerechte Teilhabe.“

In der FAZ erklärte in der vergangenen Woche Michael Lühmann, Mitautor der von Gleicke zurückgezogenen Studie, nach seiner Einschätzung seien die Demonstrationen gegen Merkel nur der Vorbote einer größeren gesellschaftlichen Debatte: „Was spätestens 2019, zum Jubiläum 30 Jahre Mauerfall, ansteht, ist eine Diskussion über die Frage, was der Mauerfall mit der ostdeutschen Gesellschaft gemacht hat.“