SPD: Der Versuch einer Rettung
In der Regierungspartei ist die Stimmung schlecht. Schon wieder — oder immer noch? Es müsse eine Entscheidung her, findet Politikstratege und SPD-Mitglied Erik Flügge.
Düsseldorf. Olaf Scholz will jetzt etwas gerade rücken. Er redet Tacheles, als er am Freitag im Bundestag noch einmal das Wort ergreift. Es hat sich da was angestaut bei dem Norddeutschen. Viele Leute würden Sachen behaupten, die schlicht Unsinn seien, sagt der Finanzminister, der SPD-Vizekanzler ist. Es geht um seinen Haushaltsentwurf, der in allen Facetten diese Woche kontrovers im Parlament diskutiert worden ist. Aber es könnte bei Scholz auch um noch Größeres gehen. Womöglich um die gesamte Gemengelage rund um die SPD.
Richtet sich der Rüffel gar an das zunehmend nervöse eigene Lager? Bei den Sozialdemokraten wächst der Verdacht, Scholz wolle einfach die CDU-Politik von Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble fortsetzen. Und er habe mit einer schlechten Kommunikation bei der Vorstellung der Etatpläne Attacken der Opposition Tür und Tor geöffnet. „Das war kommunikativ ganz alte Schule. Und leider weit von einer neuen SPD entfernt, weil er die Opposition ohne Not zum politischen Konter eingeladen hat“, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert.
Kühnert, der junge und vielen Etablierten lästige Partei-Revolutionär, hatte über Monate vehement vor dem Gang in die große Koalition gewarnt, weil dann eine „linke“ Erneuerung ausbleiben werde. Es sind Konflikte, wie sie die SPD jetzt wieder Tag für Tag erlebt. Die sie nach und nach zu zermürben scheinen, weil kein Ende in Sicht ist. Aber was soll denn auch am Ende dieses Weges stehen?
Erik Flügge kann über solches SPD-Ungemach vielleicht nur noch lächeln. Oder Tränen vergießen. Immerhin ist der junge Mann, der 1986 im baden-württembergischen Backnang geboren wurde, SPD-Mitglied. Flügge, 32, leitet eine Agentur für strategische Beratung. Er begleitete zahlreiche SPD-Wahlkämpfe, auch die zwei erfolgreichen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil. Flügge war 25 Jahre alt und studierte Politik in Tübingen, als er für die SPD im NRW-Wahlkampf 2012 in einer Online-Abstimmung das Plakat „Currywurst ist SPD“ entwarf. Ein Volltreffer. So stelle man sich eben „Glücklich sein in NRW“ vor, sagte Flügge seinerzeit und neben ihm klopfte der damalige NRW-SPD-Generalsekretär Michael Groschek dem jungen Mann begeistert auf die Schulter. Currywurst, glücklich sein, NRW — das ist noch heute Groscheks Welt.
Sechs Jahre später hat Flügge Groschek überholt. Während der bald scheidende SPD-Landeschef die Partei auf Bundesebene engagiert in die große Koalition geführt und die personelle Erneuerung der Landes-SPD vorangetrieben hat, stellt Flügge in seinem 27-seitigen Buch „SPD erneuern“ die grundsätzlicheren Fragen. Deren Antworten hält er für das Überleben der Partei für entscheidend. Einer Partei, deren jüngere Parteiprogramme „leider in weiten Teilen aus einer Verwaltungs- und Nichtveränderungslogik erwachsen“, seien, genauso, findet Flügge, der Kommunikation auch schon mal für die Grünen erdenkt. Wie das auch die CDU halte.
Logisch, dass der Berater in dem Bündnis der einst großen Parteien eine Zukunft nicht sehen kann. Und auch schon in Martin Schulz nach kurzer, anfänglicher Euphorie keine Zukunft sehen konnte. „Im verdrucksten, komplizierten und angsterfüllten Umgang des Martin Schulz mit der Agenda, mit Inhalten und Konzepten offenbarte er sich als die nächste Version der immer gleichen Nicht-Bereitschaft zum Regieren. Ein neuer Verwalter. Ein neuer grauer Mann, der uns die Zeit stiehlt“, schreibt Flügge. Und empfiehlt der SPD, die 2019 bei einem Bundesparteitag dank der Revisionsklausel im Koalitionsvertrag über einen Abbruch der Koalition abstimmen könnte, endlich eine grundsätzliche Entscheidung vorzunehmen.
„Die Erneuerung der SPD braucht nicht viel. Das, was sie braucht, ist aber schwer zu erreichen. Vier Faktoren müssen erst begriffen und dann organisiert werden“, schreibt Flügge und skizziert den Weg: Traumatherapie, neues Vertrauen, neues Programm, neue Sprache.
Flügge hält es nach der nun vordergründig überwundenen traumatischen Angst vor dem Regieren für notwendig, endlich das Trauma der Agenda 2010 hinter der Partei zu lassen. „Eine Dauerselbstgeißelung für den psychologischen Hotspot Agenda 2010 führt nur immer tiefer in die politische Depression. Ganz ehrlich, warum sollte eine Reform, die vor acht Jahren abgeschlossen sein sollte, für die Zukunft noch relevant sein?“
Zweitens müsse die demokratische Willensbildung besser funktionieren. Sie finde nicht mehr statt in der SPD: „Ortsvereine haben es aufgegeben, Anträge zu schreiben und Konzepte zu entwickeln. In den Kreisverbänden und Unterbezirken werden keine Forderungen von Substanz mehr an die Landespartei gestellt. Auf Landesparteitagen werden kaum noch Inhalte der Basis beraten, sondern stattdessen ausschweifend-belanglose Leitanträge der jeweiligen Vorstände. Auf dem Bundesparteitag kommen keine Konzepte von unten mehr zum Tragen. Welcher große Inhalt von der Basis wurde in den letzten Jahren noch Programm?“ fragt Flügge rhetorisch und erstellt ein neues Konzept, das die SPD-Basis stärker beteilige, es zugleich aber auch möglich mache, dass Beschlüsse des Parteivorstands zuletzt nicht mehr hinterfragt werden müssten. Flügges Vorschläge: „Ein von 20 Ortsvereinen wortgleich beschlossener Antrag muss auf dem Bundesparteitag besprochen werden. Die Delegierten kreuzen wie die Grünen am Anfang eines Parteitages auf einer Liste an, welche Anträge sie besprechen wollen. Und: Mitglieder erhalten Rederecht auf Bundesebene. Rednerinnen und Redner in Debatten werden gelost.“
Für entscheidend hält er aber eine grundsätzliche programmatische Entscheidung. Dafür müsse die SPD einen Grundkonflikt zweier widersprechender Ideen für „unsere Gesellschaft“ lösen: „Die eine Idee nennt sich Kommunitarismus. Die andere Idee heißt Kosmopolitismus.“
Kommunitarismus beschreibe die Idee einer in sich geschlossenen und homogenen Gesellschaft. „Eine Gesellschaftsordnung, die in der SPD unter dem Stichwort ,Gemeinschaft’ besprochen wird und in der CDU unter dem Schlagwort ,Heimat’.“ Diese Idee habe in der SPD eine breite Anhängerschaft. „Wenn Menschen sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen, dann sind sie zu größerer Solidarität bereit. Die Voraussetzung von Gemeinschaft ist aber Gleichheit“, schreibt Flügge. Demgegenüber stehe das Konzept des „Kosmopolitismus“: Eine „bunte“ Gesellschaft, die „auf der Basis gleicher Rechte nebeneinander her lebt und die Existenz und Perspektive des anderen akzeptiert, aber nicht teilt“.
Vereinbar seien diese Entwürfe aber nicht, genau das aber versuche die SPD immer wieder — und scheitere daran. „Es zerreißt sie“, sagt Flügge.
Der zentrale Konflikt: „Entweder will sie weniger Vielfalt und mehr Umverteilung oder weniger Umverteilung und mehr Vielfalt.“ Erst wenn sie diesen Konflikt auflöse, könne sie auch wieder ernsthaft Politik machen. Eine Parteierneuerung könne nur gelingen, wenn die SPD wieder klar bekomme, für welche Gesellschaft sie stehe — und für wen sie Politik mache. „Eine Klärung, die manchem Mitglied in der einen oder anderen Richtung deutlich macht, dass sie oder er in der falschen Partei ist. Aber ohne eine Entscheidung ist die Partei nicht mehr politikfähig.“
Ob diese Entscheidung zur Rettung der SPD führen kann, ist so ungewiss wie die Frage, wer eine solche Entscheidung herbeiführen wird. Während Nahles und Scholz derzeit nur wenig Begeisterung zu wecken scheinen, arbeitet Kevin Kühnert weiter an der „echten“ Erneuerung. Das wird auch im Ausland wahrgenommen. Das US-Magazin „Time“ hat ihn gerade zu einer der zwölf kommenden Führungsfiguren weltweit gewählt. Was Flügge davon wohl hält?