Politik Türkeireferendum: 69 Nägel im Sarg der Demokratie

Votiert die Mehrheit am Sonntag für Erdogans Verfassungs-Putsch, ist die parlamentarische Kontrolle der defekten türkischen Republik tot.

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Bonn. Für die Opposition ist es alles andere als gleichgültig, ob die Türken am Sonntag mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen, stellte der ehemalige Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, kürzlich auf einem Podium der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in Bonn fest: „Es ist ein Unterschied, ob man nur im Gefängnis sitzt, oder bei Einführung der Todesstrafe hingerichtet wird.“

Gleich nach der Abstimmung am Sonntag, bei der es um eine Änderung von 69 Artikeln der insgesamt 177 Artikel umfassenden aktuellen türkischen Verfassung geht, werde Präsident Recep Tayyip Erdogan die Einführung der Todesstrafe angehen, heißt es aus Reihen der Opposition, notfalls mit einem neuen Referendum.

Seit der Staatsgründung 1920 nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs hat die Türkei ihre Verfassung mit Ausnahme des ersten Artikels — „Der Staat Türkei ist eine Republik“ — immer wieder nach den Bedürfnissen der jeweils Herrschenden geändert. Die Republik Türkei gilt Politikwissenschaftlern nicht erst seit der schleichenden Machtübernahme Erdogans als „defekte Demokratie“. Die Doktrin des „Kemalismus“ von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk schreibt ein patriarchalisch-nationalistisches, über dem Volk stehendes Herrschaftssystem praktisch vor.

Die Feststellung des Frankfurter Politologen Cemal Karakas während der „Gezi-Park“-Proteste 2013 gilt in der türkischen Politik keineswegs nur für Erdogan: „Demokratie wird nicht als universeller Wert verstanden, auch Andersdenkenden Rechte und Freiheiten zuzugestehen, sondern als Instrument, vorrangig um eigene Interessen durchzusetzen.“ Erdogan geriet mit Beginn der AKP-Herrschaft vor 15 Jahren zunächst deshalb nicht in Dauerkonflikte mit der EU, weil die schleichende Veränderung des Staatssystems, so die schrittweise Entmachtung des Militärs, einen Doppelcharakter aufwies: Sie entsprach einerseits Standards der europäischen Demokratisierung, andererseits erlaubte sie ihm die Kaltstellung seiner Gegner.

Der zivile Verfassungs-Putsch, den das morgige Referendum im Falle seines Erfolgs bedeutet, begann weit vor dem gescheiterten Armee-Aufstand des vergangenen Sommers, den die meisten Türken vor dem Hintergrund ihrer Staatsgeschichte verständlicherweise nicht als verzweifelten Akt zur Rettung der Demokratie betrachten mochten. Setzt Erdogan sich am Sonntag durch, beherrscht er allein Parlament, Justiz und Armee. Damit senkt sich der Sargdeckel über der türkischen Republik.

PDF der türkischen Verfassung mit und ohne die Änderungen des Referendums (Deutsch): goo.gl/ODGmUs



Auch Professor Christian Rumpf (Staatsanwalt in Stuttgart) hat die mögliche neue und alte Verfassung gegenübergestellt.