Flucht Warum Europa Afrika helfen muss, wenn es sich selbst helfen will
Ein Viertel der weltweiten Flüchtlinge ist auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs. Nur politische Stabilität und wirtschaftliche Perspektiven werden sie vom Traumziel Europa abhalten.
Düsseldorf. Im Juni 2015 sitzen Kofi Annan, von 1997 bis 2006 Generalsekretär der Vereinten Nationen, und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zusammen auf einer Bühne des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Stuttgart. In einem denkwürdigen Auftritt blickt Annan auf die weltweiten Fluchtbewegungen und sagt: „Keine noch so hohe Mauer wird sie stoppen können.“ Ob der in Ghana geborene Friedensnobelpreisträger in diesem Moment auch an seinen Heimatkontinent gedacht hat?
Bei der Zahl der Asylanträge in Deutschland dominieren in diesem Jahr die Herkunftsländer Syrien, Afghanistan und der Irak. Die Kriegsdramen in Asien haben den Blick auf den afrikanischen Kontinent verstellt. Aber im Verlauf dieses Jahres mehrten sich die Berichte, die für die nächsten Jahre gewaltige Migrationsbewegungen von dort in Richtung Europa prognostizieren.
Den Exodus von „biblischem Ausmaß“, den die italienische Zeitung Il Giornale im Frühsommer an die Wand malte, kann man noch der populistisch-dramatischen Neigung des Mailänder Berlusconi-Blattes zuschreiben. Aber auch Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) warnt mittlerweile vor einer „dramatischen Migration“, wenn es nicht gelinge, wirtschaftliche Perspektiven in den afrikanischen Ländern zu schaffen.
Der äthiopisch-deutsche Unternehmensberater, Autor und politische Analyst Asfa-Wossen Asserate, Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers, hat in diesem Jahr ein Buch zu den Millionen Flüchtlingen Afrikas vorgelegt. Der Titel: „Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten“. Seine Kernthese: Europa muss seine Afrikapolitik ändern und den afrikanischen Despoten stärker als bisher die Stirn bieten.
Auf dem afrikanischen Kontinent sind derzeit rund 15 Millionen Flüchtlinge unterwegs, das ist ein Viertel der weltweiten Gesamtzahl. 95 Prozent der afrikanischen Flüchtlinge wurden von Nachbarländern aufgenommen, die meist ebenfalls unter Armut leiden. Die Hauptlast trugen 2015 Äthiopien (knapp 740 000 Flüchtlinge) und Kenia (gut 550 000). In Kenia befindet sich mit dem Camp Dadaab das größte Flüchtlingslager der Welt. Derzeit leben dort noch knapp 280 000 Flüchtlinge, mehr als 90 Prozent davon stammen aus Somalia.
Zum Jahresende hat die kenianische Regierung zum wiederholten Male die Schließung von Dadaab angekündigt. „Einerseits wegen der großen finanziellen und materiellen Belastung, andererseits spielen auch sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle“, sagt Dietmar Kappe, Sprecher der Uno-Flüchtlingshilfe. „In den letzten Jahren kam es in Kenia immer wieder zu Anschlägen der somalischen Al-Shabaab-Milizen, die grenzüberschreitend operieren und in der Region um Dadaab präsent sind.“
Die tatsächliche Schließung des Lagers ist nach Kappes Einschätzung aber noch überhaupt nicht abzusehen. Auch zweifelt er im Gegensatz zu anderen Beobachtern daran, dass eine solche Schließung Initialzündung für eine größere Fluchtbewegung in Richtung Europa werden könnte. Aber auch er geht davon aus, dass in den meisten afrikanischen Herkunftsländern der Flüchtlinge einschneidende Verbesserungen der Lebensbedingungen vorerst nicht zu erwarten sind. Diese Lebensbedingungen seien geprägt von Krieg, Verfolgung, Armut, Hunger, Perspektivlosigkeit und Umweltzerstörung. „Daher wird die Flucht vermutlich massiver weitergehen.“
In diesem Jahr haben 180 000 Bootsflüchtlinge die lebensgefährliche Überfahrt von Nordafrika nach Italien gewagt, 26 000 mehr als im vergangenen Jahr. UN und Flüchtlingsorganisationen schätzen, dass noch etwa 300 000 Menschen an der libyschen Küste auf eine Überfahrt warten.
Den Fluchtbewegungen steht ein massives Bevölkerungswachstum gegenüber. In Afrika wird sich die Bevölkerung nach Angaben der Stiftung Weltbevölkerung von heute 1,2 Milliarden auf voraussichtlich knapp 4,4 Milliarden Menschen im Jahr 2100 fast vervierfachen. Damit steigt der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung von heute 16,1 Prozent auf 39 Prozent im Jahr 2100. Schon bis 2050 soll sich die Einwohnerzahl der 49 Staaten südlich der Sahara auf zwei Milliarden Menschen verdoppeln. Dabei ist die Region bereits heute die ärmste der Welt. Im bevölkerungsreichsten Land Nigeria sind jetzt schon mehr als zwei Drittel der Jugendlichen arbeitslos.
Entwicklungsminister Müller hat vor diesem Hintergrund einen Marshall-Plan für Afrika angeregt. „Ich will eine neue Partnerschaft Europas mit Afrika, eine neue Gesamtstrategie, die die wirtschaftliche Stärke des Kontinents voranbringt“, sagte er im Interview mit unserer Zeitung. Afrika brauche jedes Jahr 20 Millionen neue Arbeitsplätze für eine junge, dynamische Generation, die gerade heranwachse. Gelinge das nicht, würden in den nächsten zehn Jahren Millionen nach Europa kommen wollen. Welcher politische Sprengstoff in einer solchen Entwicklung liegen würde, haben die vergangenen zwei Jahre gezeigt.
Das weiß auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Im Rahmen ihrer Afrikakreise im Oktober dieses Jahres kündigte sie daher an, während der deutschen G20-Präsidentschaft im kommenden Jahr werde Afrika als Zukunftskontinent eine große Rolle spielen.
Denn das europäische Afrikabild von Despoten, Korruption, versickernder Entwicklungshilfe und grenzenloser Armut ist nur die halbe Wahrheit. Mehrere afrikanische Staaten gehören inzwischen zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt, wenn auch von einer niedrigen Basis aus. „Aber das Wachstum muss auch bei den Armen ankommen“, heißt es seitens der deutschen KfW-Entwicklungsbank. Die Bank unterstützt beispielsweise den Schul- und Straßenbau, die Errichtung von Gesundheitsstationen und den Aufbau erneuerbarer Energieträger.
Viele Erwartungen sind auch mit dem Zugang zum Weltmarkt verbunden. Im Juli 2015 ist das 2000 abgeschlossene AGOA-Abkommen bis 2025 verlängert worden. Es sichert ausgewählten Produkten aus mehr als 40 Ländern südlich der Sahara einen Marktzugang in den USA zu. Allerdings hinterlässt die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und seine Abneigung gegen internationale Handelsabkommen hier eine große Unsicherheit. In Deutschland arbeitet die Subsahara-Afrika-Initiative der Deutschen Wirtschaft an einer Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen nach Afrika. Wichtigster Handelspartner der Subsahara-Staaten ist aber mittlerweile China. Doch viele Fortschritte werden von dem rasanten Bevölkerungswachstum wieder aufgezehrt.
Es ist also ein Wettlauf gegen die Zeit, südlich der Sahara wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen und die Lebensperspektiven zu verbessern. Andernfalls, schreibt Autor Asfa-Wossen Asserate in seinem Buch, sei der Exodus nicht zu vermeiden. „Europa sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass diese Völkerwanderung durch Patrouillen auf See, durch Zäune oder Mauern aufgehalten werden könnte.“ So ähnlich hatte es auch Friedensnobelpreisträger Kofi Annan schon gesagt.