Abschiebung Streit um Rückführung des Solinger Attentäters

Düsseldorf · Ein Dokument und seine Übersetzung sind der Zankapfel: Hätte Issa Al Hassan viel schneller abgeschoben werden können?

September 2024: Der mutmaßliche Täter des Messerangriffs von Solingen wird zu einem Hubschrauber gebracht.

Foto: dpa/Uli Deck

Der islamistische Attentäter, der im August des vergangenen Jahres auf dem Stadtfest in Solingen drei Menschen mit dem Messer getötet und acht weitere verletzt hat, hätte womöglich leichter zurückgeführt werden können, als von Flüchtlings- und Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) zuletzt dargestellt worden ist. Das jedenfalls lässt sich aus einem Papier der State Agency for Refugees der Republic of Bulgaria vom 20. Februar 2023 herauslesen, das unserer Redaktion vorliegt – und sich mit einer möglichen Überstellung des Syrers Issa Al Hassan an die bulgarischen Behörden wohlgemerkt vor dem Attentat in Solingen beschäftigt (Ref. Nummer 32E9961762).

In dem offiziellen Schreiben akzeptiert die unterzeichnende „Dublin Unit Bulgaria“ den offenbar am 7. Februar vom Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellten Wunsch nach Rückführung All Hassans ausdrücklich und bevorzugt dafür am Flughafen in Sofia „jeden Werktag außer Freitag zwischen 9 und 14 Uhr“ („We prefer the transfer to take place at Sofia Airport any working day except Friday between 9:00 AM and 2:00 PM.“). Zudem wird darum gebeten, den Flug sieben Tage vorher anzukündigen.

Kaum Zeitfenster, kaum Flüge

Allerdings: Die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten dieses Schreibens sorgen jetzt für Ärger. Denn man kann daraus zweierlei lesen: Entweder kommt für die Rücküberführung jeder Werktag außer Freitag zwischen 9 und 14 Uhr in Frage. Oder aber jeder Arbeitstag zwischen 9 und 14 Uhr – außer Freitag.

Ministerin Paul hat sich für die zweite Variante entschieden. So hat Paul im Integrationsausschuss des NRW-Landtags am 29. August 2024 die Überstellung Al Hassans in dessen Erstaufnahme-EU-Land Bulgarien, in das er wegen der Dublin-Vereinbarungen zurückgeführt werden müsste, als extrem schwierig dargestellt. Tenor: Kaum Zeitfenster, kaum Linienflüge – und überdies Charterflüge nicht erlaubt. Und: Der Rückführungsplan müsse den bulgarischen Behörden neun Werktage im Voraus mitgeteilt werden.

Die andere Deutung weist derweil weniger Probleme auf: Nach den Aussagen des vorliegenden Papiers hätte der spätere Täter von Solingen an jedem Werktag ohne Flugzeug-Einschränkungen und sieben Tagen Ankündigungsvorlauf überstellt werden können – außer bevorzugt nicht freitags zwischen 9 und 14 Uhr. Wer hat nun Recht?

Laut Flüchtlingsministerium habe Paul im Hinblick auf das Papier, das Teil der Unterlagen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Solingen ist, weder einen Übersetzungsfehler gemacht noch anderweitig falsch gehandelt. Das bestätige ein Dokument des BAMF, in dem die jeweiligen Vorgaben der Mitgliedstaaten bei Dublin-Überstellungen für die Ausländerbehörden zusammengefasst seien, so eine Ministeriumssprecherin. Dort sei sowohl für Bulgarien eine Vorlaufzeit von neun Tagen aufgeführt, weil die jeweiligen „vorgegebenen Vorlaufzeiten der Mitgliedstaaten um zwei Arbeitstage erhöht wurden“ – wegen der „internen Bearbeitungszeit der Terminvorschläge im zuständigen Referat des BAMF“. Und: „Ganz konkret heißt es in der damals gültigen Lagemeldung des ZUR unter dem Reiter Mitgliedsstaat (MS) für Überstellungstage: „Mo-Do“ sowie „09:00 – 14:00“.

So interpretiere man im NRW-Ministerium dann eben auch das vorliegende Schreiben: Paul habe deshalb nichts anderes gesagt: nämlich Rückführungen montags bis donnerstags zwischen 9 und 14 Uhr. Auch zum durchaus verbindlichen Ton aus Bulgarien in dem Schreiben an das BAMF wollte sich das NRW-Ministerium am Montag nicht weiter äußern. „Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat keine eigene Wahrnehmung zu Tonalitäten in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Bulgarien.“

Andere Zusammenhänge sehen die Oppositions-Fraktionen im Landtag. Die FDP bezeichnet die Grünen in NRW in einer Stellungnahme als „Sicherheitsrisiko“ und „Abschiebeverweigerer“. FDP-Fraktionschef Henning Höne sagte dieser Zeitung, Paul habe Parlament und Öffentlichkeit mit ihrer Darstellung der gescheiterten Rückführung des späteren Attentäters von Solingen offenbar getäuscht. „Die Wahrheit ist: Bulgarien hatte Flexibilität für die Überstellung des späteren Attentäters signalisiert. Ministerin Paul stellte es hingegen so dar, als sei eine Abschiebung nur in einem engen Rahmen hinsichtlich des zeitlichen Vorlaufs, des Zielflughafens und der Flugzeiten gewesen. Dieser Unterschied ist nicht bloß ein Detail, sondern zeigt, dass Ministerin Paul offensichtlich versucht hat, sich selbst und das Scheitern der Abschiebung in einem milderen Licht darzustellen. Fakt ist: Es hätte zahlreiche Möglichkeiten gegeben, den Abschiebeflug durchzuführen.“ Die FDP-Landtagsfraktion NRW fordere deshalb „den sofortigen Rücktritt von Ministerin Josefine Paul“.

Auch die SPD-Fraktion sieht in einer Stellungnahme „zahlreiche Mosaiksteine aus Ungereimtheiten, Desinteresse und Halbwahrheiten“, die das Bild einer „überforderten Fluchtministerin“ zeichneten. „Und Ministerpräsident Wüst schaut genauso lange dabei zu, wie Josefine Paul das Thema vernachlässigt“, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Lisa-Kristin Kapteinat.

Und: „Wir erwarten, dass die Ministerin dem Untersuchungsausschuss umgehend Rede und Antwort dazu steht. Bisher haben CDU und Grüne noch jeden Versuch unternommen, die Aufklärung massiv zu behindern. Damit muss jetzt Schluss sein.“