Was gegen die Gerüchte-Hysterie hilft: Finger von der Tastatur
Bob Garfield und Brooke Gladstone sind die Macher und Redakteure der wöchentlichen US-Radiosendung „On the media“, die von 400 nicht-kommerziellen Sendern in den Vereinigten Staaten ausgestrahlt wird.
Nach dem „Washington Navy Yard”- Massaker, bei dem am 16. September 2013 ein 34-jähriger Einzeltäter auf einem Marine-Stützpunkt in der US-Hauptstadt zwölf Menschen erschoss und drei weitere verwundete, veröffentlichten Garfield und Gladstone ein Nutzerhandbuch für vergleichbare Nachrichtenlagen (Original auf Englisch hier: goo.gl/ivFgth), das neun sehr simple Regeln umfasst.
Genau so war es in Münster wieder: Um 16.18 Uhr behauptete der Online-Dienst einer Düsseldorfer Zeitung bereits, es handele sich um einen „Anschlag“ und wollte das aus „Polizeikreisen“ erfahren haben. Ein Hamburger Magazin vermeldete: „Münster: Fahrzeug fährt in Menschenmenge — Tote und Verletzte“, was WDR-Nachrichtensprecher Udo Stiehl bei Twitter so kommentierte: „Man könnte natürlich auch formulieren: ,Ob es ein Unfall war, ist noch nicht klar.‘ Aber dann klingt es nicht reißerisch genug.“ Kurz: Vergleicht man die heutige Berichterstattung mit den Schnellschüssen vom Samstagnachmittag, könnte man in einigen Fällen zweifeln, ob es sich überhaupt um das gleiche Ereignis handelt. Garfield und Gladstone raten in Regel Nummer 2, solche Angaben wie „Polizeikreise“ als das zu bewerten, was sie sind: nicht glaubhaft.
„Oft werden Nachrichtenagenturen ,Quellen‘ oder einen ,Strafverfolgungsbeamten‘ anführen“, so Garfield und Gladstone, die dazu Ian Fisher zitieren, den stellvertretender Chefredakteur für digitale Operationen bei der New York Times: „Ich denke, sie müssen sehr vorsichtig sein. ,Polizeikreise‘ könnte alles vom FBI bis zu einem Streifenwagen-Polizisten sein. Also, weißt du es einfach nicht und du solltest dem nicht wirklich vertrauen."
Diese dritte Regel leuchtet ohne weitere Erklärung ein: Wer bloß die anderen abgeschrieben hat, weiß in Wahrheit gar nichts und wird innerhalb der ersten 60 Minuten nach einem Ereignis auch gar keine Chance zu einem wirklichen Gegencheck haben.
Aber es gibt fast immer Berichte darüber, ebenfalls gern unter Berufung auf „Polizeikreise“ oder „Augenzeugen“. Woher kommen diese „Informationen“, die in Wahrheit keine sind? Sehr einfach: So lange die Polizei nicht weiß, mit wie vielen Tätern sie es zu tun hat, kann sie nicht fahrlässig von einem Einzeltäter ausgehen. So war es auch am 22. Juli 2016 in München, als der 18-jährige David S. rund um das Olympia-Einkaufszentrum in Moosach neun Menschen tötete und fünf weitere verletzte, bevor er sich selbst tötete. Die Panik, die durch falsche Nachrichten und eine regelrechte Hysterie in „sozialen Medien“ ausgelöst wurde, führte laut späterer Untersuchungen zu mindestens 32 weiteren verletzten Menschen.
Auch das ist einfach: Sagt die Frau oder der Mann auf Dauersendung „ich höre gerade, dass…“, kann das alle mögliche bedeuten. Wer in einer sich entwickelnden Nachrichtenlage keine Quelle für seine Informationen nennt, verbreitet bloß Gerüchte.
Kein Wunder: Die verlässlichste und am wenigsten reißerische Quelle war am Samstag wn.de, der Online-Auftritt der örtlichen Zeitung, der „Westfälischen Nachrichten“. Alle anderen warfen zum Teil sogar die Örtlichkeiten durcheinander: Da wurde der Spiekerhof zum Prinzipalmarkt, und dass es zwei benachbarten Restaurants namens „Kiepenkerl“ gibt (einen kleinen und einen großen), überstieg in den meisten Fällen die berichterstatterische Kompetenz.
Im Laufe der Berichterstattung findet eine Ausdifferenzierung der Information statt: Zeitung A hat vielleicht einen guten Draht zur örtlichen Polizei, Zeitung B fragt aber schon beim Innenministerium in Berlin nach. Daraus ergibt sich nach Stunden ein Gesamtbild. Wer grundsätzlich gar nichts weiß, ist politisches Gesindel, dass bloß auf einen neuen Anlass gewartet hat, einen Anschlag und dessen Opfer zur Verbreitung von Hass zu missbrauchen. In dieser Hinsicht war auf die stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch und viele ihrer Helfershelfer auch am Samstag wieder Verlass.
Die Regel ist sehr einfach: Was kein Nachrichten-Foto ist, ist kein Nachrichten-Foto. Trauen Sie diesen Bildern einfach nicht.
Dirk von Gehlen, der bei der Süddeutschen Zeitung den Bereich Social Media/Innovation leitet, hat nach dem Amoklauf am Münchner Olympia-Einkaufszentrum eine eigene Liste von Regeln veröffentlicht, „die in solch unübersichtlichen Situationen helfen können, Panik zu vermeiden - und Ruhe zu bewahren“. Die erste lautet: „Ich bin mir bewusst, dass eine von mir verbreitete Information gerade bei Freunden als verlässlich wahrgenommen wird. Dieser Verantwortung meinen Freunden gegenüber versuche ich gerade in schwierigen Situationen gerecht zu werden — und poste deshalb nicht unüberlegt.“ Alle sieben Regeln finden sie hier: https://gegen-die-panik.de