Immer und überall? Folgen des flexiblen Arbeitens
Berlin(dpa) - Das Handy liegt für den letzten Blick auf die Mails auf dem Nachttisch, am Strand im Urlaub werden noch Fragen des Chefs beantwortet und beim 70. Geburtstag wird noch schnell am aktuellen Projekt gearbeitet.
Handy und Tablet machen es möglich, dass Arbeitnehmer immer und überall im Einsatz sein können.
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov ergab, dass fast jeder zweite Erwerbstätige in Deutschland nach Feierabend seine beruflichen E-Mails checkt. Etwa jeder Dritte hat in seinem letzten Urlaub mindestens einmal in die Dienst-Mails geschaut. Gleichzeitig stört es etwa 40 Prozent aller Deutschen, wenn ihre Begleitung im Urlaub berufliche E-Mails liest. Dabei wird die ständige Erreichbarkeit auch nach Feierabend von etwa jedem Dritten als „eher“ oder „sehr belastend“ empfunden.
Die ständige Erreichbarkeit hat noch mehr Schattenseiten als genervte Partner. Sie bleibt nicht ohne gesundheitliche Folgen. Einer Untersuchung der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) aus dem Jahr 2013 zufolge sind Beschäftigte im Dienstleistungsbereich stärker betroffen als im Verarbeitendem Gewerbe. Erholzeiten werden verkürzt oder unterbrochen, auch der Abstand zwischen Arbeit und nächtlicher Ruhe falle unter Umständen schmaler aus und könne zu Schlafstörungen führen. Eine ernste Konsequenz könne ein Erschöpfungszustand sein.
Der nun veröffentlichte zweite Teil der Studie bestätigte:
Ständig für den Beruf auf Abruf zu stehen, kann auf die Gesundheit
schlagen. Etwa ein Fünftel der Befragten in der Studie gaben an, in
ihren Schlaf- und Erholungszeiten beeinträchtigt zu sein. Etwa ein
Drittel fühlen sich im Familienleben und bei Freizeitaktivitäten
während der Wochen und am Wochenende gestört.
Stressbedingte Gesundheitsbeschwerden wie Bluthochdruck und psychische Beschwerden wie Ängstlichkeit, Schlafstörungen, Burnout oder ernsthafte Krankheiten wie Depression seien schlimmstenfalls die Folge.
Einige Konzerne haben inzwischen Schutzmechanismen für ihre Mitarbeiter eingeführt. Der Vorstand der Deutschen Telekom hat zur Maßgabe gemacht, dass leitende Angestellte ihren Mitarbeitern nach Dienstschluss, am Wochenende und im Urlaub keine Mails schicken. „Jeder kann sich darauf berufen“, sagt ein Telekom-Sprecher. Die Vorgabe gilt bei flexiblen Arbeitszeiten auch am Nachmittag. „Diese ständige Erreichbarkeit wird dadurch ausgehebelt“, so der Telekom-Sprecher. Das solle die Mitarbeiter in Zeiten von Blackberry und Smartphone auch vor sich selbst schützen. „Erholzeiten sind Erholzeiten.“
Bei BMW und Volkswagen räumen spezielle Regelungen den Beschäftigten ein Recht auf Nichterreichbarkeit ein. VW hatte vor einigen Jahren bereits eine E-Mail-Sperre eingerichtet, die Tarifmitarbeiter in den Randzeiten - etwa abends - von E-Mails abkoppelt. Sie können dann weder Mails empfangen noch senden. Daimler stellt seinen Mitarbeitern frei, eingehend E-Mails während ihres Urlaubs einfach löschen zu lassen. Daimler arbeitet nach den Worten von Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht gerade an einer Betriebsvereinbarung, die auch das Recht auf Nichterreichbarkeit einschließen soll. Doch andere Konzerne wie beispielsweise Siemens oder Eon überlassen das den Mitarbeitern. „Wir setzen auf Eigenverantwortung“, sagt ein Siemens-Sprecher.
In den Gewerkschaften wird inzwischen ein Rechtsanspruch auf Nicht-Erreichbarkeit diskutiert. „Es gibt Regelungsbedarf“, sagt Oliver Suchy, Leiter des Projektes „Arbeit der Zukunft“ beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Das Arbeitsministerium hat Fragen der Erreichbarkeit in seinem „Grünbuch Arbeit 4.0“ zur Diskussion gestellt.
„Erreichbarkeit ist ein zweischneidiges Schwert“, sagt Suchy. Einerseits werde dadurch flexibles Arbeiten ermöglicht, was im Interesse der Beschäftigten sei. Doch es gebe zu wenige Regelungen, häufig arbeiteten die Beschäftigten unentgeltlich in ihrer Freizeit, Überstunden würden am Ende doch nicht abgegolten.
Einer jüngst veröffentlichten Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge leisteten die Arbeitnehmer im vergangenen Jahr in Deutschland fast eine Milliarde unbezahlte Überstunden. Diese Belastung sei für die Chefs häufig nicht sichtbar, sagt Suchy. Außerdem sparen die Unternehmen Geld: „Arbeit muss auch bezahlt werden.“