Das Ende eines Lebenstraums: Kinderlosigkeit akzeptieren
Berlin (dpa/tmn) - Dieses Jahr soll das letzte sein, dann wollen sie aufhören. Von 2017 an wollen sich Anja Graef und ihr Mann nicht mehr aktiv um ein Kind bemühen. „Dieses Jahr machen wir alle Türen auf.
Wenn es nicht klappt, müssen wir uns davon verabschieden“, sagt die inzwischen 44-Jährige.
Mit „alle Türen öffnen“ meint sie, sich auch für Adoption oder Pflege eines Kindes zu öffnen. Hinter Graef liegen Behandlungen in drei unterschiedlichen Kliniken und elf künstliche Befruchtungen - sogenannte Intrazytoplasmatische Spermieninjektionen (ICSI).
Für alle Paare mit unerfülltem Kinderwunsch kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie ihren Lebensplan neu aufstellen müssen. „Der Punkt kommt unweigerlich, denn, wenn es jahrelang versucht wurde, muss man sich irgendwann mit dem Gedanken anfreunden“, sagt Prof. Stephanie Krüger, Chefärztin des Zentrums für Seelische Frauengesundheit am Vivantes Humboldt-Klinikum Berlin.
Anja Graef und ihr Mann erlebten Hochs und Tiefs. Der fünfte ICSI-Versuch gelang, Graef war schwanger mit eineiigen Zwillingen. „Wir haben die Herzchen schon pochen gehört.“ In der 16. Schwangerschaftswoche verlor sie die Kinder - der schlimmste Moment in der ganzen Zeit. Sie machten weitere Versuche, bis ihr Körper verrückt spielte. Sie legten eine Pause von einem Jahr ein.
In dem Moment, in dem die Betroffenen realisieren, dass sich ihr Lebenstraum nicht mehr erfüllt, bricht für sie eine Welt zusammen, schildert Prof. Krüger: „Das ist für viele eine Katastrophe.“ Und die Katastrophe hört in vielen Fällen niemals so richtig auf. Sie kommen immer wieder in Situationen, die ihnen zeigen, was sie eben nicht haben: Etwa, wenn Freunde Enkel bekommen oder die Kinder der Nachbarn Abitur machen. Einfach werde es eigentlich nie. „Man kann den Wert nicht einfach auf andere Dinge legen. Ein eigenes Kind ist nicht ersetzbar durch Reisen, ein Haustier oder einen Job.“
Prof. Krügers wichtigster Rat ist deshalb, zu lernen, es zu akzeptieren - so schwer es auch zu sein vermag. „Sie müssen akzeptieren: Dieser Wunsch wird in uns bleiben, ein Kind war für uns nicht vorgesehen.“ Gerade in dem Moment scheint das für viele Paare unvorstellbar. „Aber der akute Schmerz geht, die Zeit heilt viele Wunden - auch wenn diese Lücke immer bleibt.“
Auch die Psychologin und Familientherapeutin Dörte Foertsch rät dazu, die Trauer zuzulassen und sich therapeutisch helfen zu lassen - auch als Paar. Schon die Entscheidung für eine künstliche Befruchtung sei ein ziemlich entscheidender Einschnitt in eine Beziehung. „Weil Sexualität zum Funktionalen wird“, sagt Foertsch. Viele Paare würden in dieser Zeit mehr und mehr isoliert und seien allein damit. Um sie herum bekommen viele Freunde Kinder, gleichzeitig sind Themen wie künstliche Befruchtung noch immer ein Tabu.
Wer Kinder hat, dem geht es auch darum, weiterzugeben, was für ihn im Leben wichtig ist. „Man kann seine Wertvorstellungen aber auch anders fortpflanzen“, sagt Foertsch. Beispielsweise an Patenkinder oder durch soziales Engagement. Letztlich sind Kinder immer auch ein gemeinsames Projekt der Eltern - Foertsch rät kinderlosen Paaren, sich eine andere gemeinsame Aufgabe zu suchen. Auch das ersetzt natürlich kein eigenes Kind, kann die Partner aber zusammenschweißen.
Richtig bitter wird es, wenn die Partnerschaft daran zerbricht - womöglich, weil einer von beiden die „Ursache“ für die Kinderlosigkeit ist. Wenn der Kinderwunsch übermächtig wird, spielt die Liebe oft nur noch eine Nebenrolle. So kann der Entschluss, den Kinderwunsch aufzugeben, auch befreiend sein. „Wenn der Druck einmal wegfällt, ist das für viele eine große Entlastung“, sagt Krüger.
Wegen gesundheitlicher Probleme musste Anja Graef ihren Beruf aufgeben. In Zukunft möchte sie anderen Menschen als Heilpraktikerin in ähnlichen Situationen zur Seite stehen. 2015 gründete sie die Selbsthilfegruppe Dornröschen für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch.
Im vergangenen Dezember trafen sie und ihr Mann die Entscheidung: Noch ein Jahr, dann ist Schluss. Auch für sie ist das eine Erleichterung. „Es ist gut zu wissen, eine Grenze zu haben. Sonst macht man immer weiter und weiter und kann es niemals loslassen.“ Das Paar wollte sich aber später nicht vorwerfen, irgendetwas unversucht gelassen zu haben. Haben sie Angst? „Nein, Ängste haben wir gar nicht, wir sind relativ entspannt, weil wir gesagt haben: Wir können es jetzt eh nicht mehr ändern.“