Ersatzfamilie im Reihenhaus: Flüchtlinge bei Pflegeeltern
Rednitzhembach (dpa) - Susanne Philipp macht aus ihren anfänglichen Bedenken keinen Hehl: „Wir haben Neuland betreten. Das war ein stückweit ein Wagnis“. Trotzdem haben sie und ihr Ehemann Karl-Heinz den Schritt bis heute nicht bereut.
Am Ende hatte die Überzeugung den Ausschlag gegeben: „Da müssen wir helfen.“ Und inzwischen empfindet Susanne Philipp nur noch Glück. „Wenn Jamal (Name von der Redaktion geändert) die Treppe herunterkommt, geht die Sonne auf“, erzählt die 52-Jährige.
Jamal - das ist ein 17 Jahre alter afghanischer Flüchtling. Nach monatelanger Flucht war der junge Afghane im April 2015 nach Nürnberg gelangt - der Bruder tot, die Eltern seit seiner Flucht aus dem bürgerkriegszerrütteten Land vermisst. Seit dem vergangenen Herbst sind Karl-Heinz und Susanne Philipp seine neue Familie. Das im fränkischen Rednitzhembach (Landkreis Roth) lebende Ehepaar hat Jamal als Pflegekind aufgenommen - neben ihrer 18 Jahre alten Tochter. Insgesamt haben sie drei leibliche Kinder.
Viel hatte Jamal von Deutschland nicht gewusst, als er im November 2014 aus Afghanistan floh. Aber ein Freund seines Vaters sei der Meinung gewesen, Deutschland sei ein gutes Land. In Nürnberg von Vertretern des Jugendamtes vor die Wahl gestellt, in ein Heim oder eine Wohngruppe oder eben bei Pflegeltern unterzukommen, musste Jamal nicht lange nachdenken: „Bei Pflegeeltern, da lerne ich viel schneller Deutsch. Im Heim bin ich wieder nur unter Afghanen“, erzählt er in ganz passablem Deutsch.
In seiner neuen Heimatstadt Rednitzhembach, eine halbe S-Bahn-Stunde von Nürnberg entfernt, besucht er inzwischen die 9. Klasse der Mittelschule. Verkäufer will er einmal werden. Seine Lieblingsfächer sind Deutsch und Sport. In seiner Freizeit kickt er in der B-Jugend des SV Rednitzhembach. Schon im Afghanistan habe er viel Sport getrieben - meist aber nur im Garten seines Elternhauses. „Denn das Haus zu verlassen, war gefährlich. Überall lauerten die Taliban“, erzählt der aus der Provinz Wardak stammende Afghane.
In seiner neuen Familie fühlt sich der in schwarz-weißem Batik-T-Shirt gekleidete junge Afghane sichtlich wohl. „Mit meinen neuen Eltern“, so versichert Jamal immer wieder voller Dankbarkeit, „habe ich keine Probleme“. Und auch für die beiden Pflegeeltern war nach zwei bis drei gemeinsamen Probe-Wochenenden klar: „Die Chemie stimmt. Das passt“. Daran habe sich auch nach Monaten nichts geändert, versichert der 57-Jährige Pflegevater.
Dass man sich mit einem Moslem als neuem Familienmitglied auf manche Einschränkung habe einstellen müssen, das war Philipp freilich von Anfang an klar. Auf den Tisch im verglasten Wintergarten des Vorstadt-Reihenhauses kommt afghanisch-fränkische Küche mit viel Reis und Gemüse. So bestand das Weihnachtsmenü der Familie aus afghanischem Hühnchen mit sauren fränkischen Bratwürsten.
Dass das Hähnchen „halal“, also nach islamischen Glaubensvorschriften geschlachtet sein musste, machte die Vorbereitung des Weihnachtsessens nicht gerade einfacher. „Das bekamen wir nur in einem speziellen Laden in Nürnberg“, erzählt Karl-Heinz Philipp. Klar, sei manches etwas komplizierter. Dafür habe die Familie viel gelernt. „Wir sitzen oft zusammen. Dabei erzählt uns Jamal von seinem früheren Leben“, berichtet Susanne Philipp.
Wenn es darum geht, etwa die afghanische Art des Brotbackens zu erklären, hilft auch schon mal das Internet-Videoportal Youtube. „Das Brot, das meine Mutter gebacken hat, war köstlich“, schwärmt er. Heimweh habe er dennoch nur selten, versichert er. „Ich habe dort eh niemanden mehr.“ Richtig traurig werde er, wenn er in den TV-Nachrichten Bilder von Anschlägen in Afghanistan sieht. „Jeden Tag dieser Terror und die ganzen Menschen, die dabei sterben“, sagt Jamal mit stockender Stimme.
Nach Angaben der Diakonie Rummelsberg, die auch Jamal betreut und vermittelt hat, ist die Unterbringung junger Flüchtlinge in einer deutschen Pflegefamilie eher die Ausnahme. Nicht viele Familien seien dazu bereit. „Einen 15 oder 16 Jahre alten Syrer oder Afghanen in die Familie aufzunehmen, ist schon was Besonderes“, räumt Elisabeth Schröder ein. Sie ist in der Nürnberger Clearingstelle der Rummelsberger Diakonie für die Erstversorgung der unbegleiteten jungen Flüchtlinge zuständig.
Manche Jugendliche hätten an einer Unterbringung bei Pflegeltern auch gar kein Interesse. „Viele haben ja noch ihre leiblichen Eltern in ihrer Heimat oder irgendwo in Europa. Andere sehen allerdings im Leben in einer deutschen Familie auch eine große Chance“, berichtet Schröder. Die meisten unbegleiteten jungen Flüchtlinge seien in Heimen und Wohngruppen mit bis zu zehn Mitglieder untergebracht. Allein im Jahr 2015 hatte die Rummelsberger Diakonie 15 solche Flüchtlings-WGs neu geschaffen. „Das war für uns schon ein großer Kraftakt.“