Grundbedürfnis Fast alle Kinder wünschen sich Vorlese-Zeit

Berlin (dpa) - Räuber Hotzenplotz, Pippi Langstrumpf oder die wilden Hühner: Kinder in Deutschland lieben es, wenn sie Geschichten vorgelesen bekommen.

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Trotz der großen Konkurrenz neuer Medien gefällt rund 90 Prozent der Fünf- bis Zehnjährigen das traditionelle Familienritual, ergab eine repräsentative Umfrage der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung „Zeit“ und der Deutsche Bahn Stiftung, die am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Dabei gab es kaum Unterschiede zwischen den Bildungsgraden der Elternhäuser.

„Diese Deutlichkeit hat uns überrascht“, sagt Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung. „Das zeigt, dass Vorlesen zu den Grundbedürfnissen von Kindern gehört.“ Gründe sieht Ehmig vor allem darin, dass Vorlesen auch eine große soziale Komponente hat. So fand mehr als die Hälfte der befragten Kinder, dass Vorlesen „so gemütlich ist“. Fast die Hälfte freute sich auf „tolle Geschichten“ und „dass ich Mama oder Papa für mich habe“. Und wenn es noch etwas zu verbessern gibt, ist die Antwort vieler Kinder eindeutig und lautet: noch mehr Vorlesen.

Meist sind es immer noch die Mütter, die dem Wunsch des Nachwuchses nachkommen. Sie sind auch mit Abstand die begehrtesten Vorleserinnen. „Väter holen erst langsam auf“, berichtet Ehmig. Doch auch Vorlesen in der Kita und in der Schule begeistert Kinder. Es ist in der Beliebtheit laut Umfrage aber kein Ersatz für die exklusive Lese- und Kuschelzeit mit den Eltern sowie die Gespräche, die sich aus Geschichten ergeben.

Rund 4,2 Millionen Kinder in Deutschland sind zwischen fünf und zehn Jahre alt. Rund 500 von ihnen und ihre Mütter sind für die Umfrage interviewt worden. Doch längst nicht alle Kinder kommen in den Genuss, regelmäßig Geschichten zu hören. Noch immer liest nach Angaben der Stiftung Lesen rund ein Drittel aller Eltern ihren Kindern nicht regelmäßig vor. Das betrifft vor allem bildungsferne Familien. Gerade dort ist der Wunsch der Kinder nach Vorlese-Zeit besonders groß - und das Fehlen nehmen viele Kinder als Defizit wahr.

„Es ist kein böser Wille der Eltern“, betont Ehmig. Oft wüssten sie, wie wichtig das Vorlesen auch für den Sprachschatz ihrer Kinder sei. „Doch sie setzen es nicht in die Praxis um. Oft, weil sie es in ihrer Kindheit auch nicht erlebt haben.“

Die Sprache, in der vorgelesen wird, ist für die Stiftung nicht entscheidend. „Am besten klappt es in der Sprache, in der sich Eltern oder Großeltern wohlfühlen“, sagt Ehmig. Denn Kinder sind sehr sensibel und realistisch, wenn sie in der Umfrage Lese-Qualität beurteilen. Nur etwas mehr als die Hälfte (58 Prozent) glaubt, dass Erwachsenen das Vorlesen immer Spaß macht. Das deckt sich mit den Angaben der Mütter, die zugeben, manchmal einfach zu müde dafür zu sein - aber ihr Kind ohne Gute-Nacht-Geschichte nicht enttäuschen wollen.

Anspruchsvoll ist der Nachwuchs bei der Lektüre durchaus. Die Jüngeren wollen lustige Geschichten, die älteren spannende. Einem Viertel gefällt das Vorlesen nicht mehr, sobald sie die Geschichte als langweilig empfinden, sie ihnen Angst macht - oder sie sie schon gut kennen. Wenn es dagegen Identifikationsfiguren gibt, gehen besonders die Älteren voll mit. Sie suchen die Lektüre auch gern selbst aus. Ehmig rät, auch noch zehnjährigen Kindern vorzulesen - am besten im Wechsel, bis der Nachwuchs auch schwierigere Texte allein erfassen kann.

Die Stiftung Lesen will mit Kampagnen wie dem bundesweiten Vorlesetag am 18. November erreichen, dass bis zum Jahr 2030 rund 90 Prozent der Eltern ihren Kindern vorlesen - und es eine Art symbolisches Recht darauf gibt.