Kampf gegen die Schulpflicht Gibt es ein Recht auf Heimunterricht?
Straßburg (dpa) - Die Schulpflicht - für die einen ist sie eine demokratische Errungenschaft, für die anderen eine antiquierte Freiheitsbeschränkung. Familie Wunderlich aus Ober-Ramstadt bei Darmstadt zählt zu letzteren.
Sie beschreibt als „furchteinflößend“, wie Polizisten im Sommer 2013 die Kinder zu Hause abholten, um einen Schulbesuch zu erzwingen. Die Haustür sei mit einem Rammbock geöffnet, die Wohnung „gestürmt“, die Eltern zur Seite gestoßen und die Kinder „weggezerrt“ worden.
Was ist das Problem bei häuslichem Unterricht?
Das Ehepaar Wunderlich - ein streng religiöses Paar aus Hessen, in der Nähe von Darmstadt - will seine vier Kinder zu Hause unterrichten. Der deutsche Staat macht dabei aber nicht mit und pocht auf die Schulpflicht. Die beiden führen deshalb seit Jahren einen Rechtsstreit nach dem anderen. In einigen Monaten wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über ihre Klage entscheiden müssen. (Beschwerde-Nr. 18925/15)
Ist das ein skurriler Einzelfall?
Die Kultusministerkonferenz schätzt, dass bundesweit 500 bis 1000 schulpflichtige Kinder zu Hause unterrichtet werden.
Wie ist die Rechtslage in Deutschland?
Ausnahmen von der Schulpflicht sind in Deutschland kaum möglich. Das Bundesverfassungsgericht hält das für gerechtfertigt. 2014 entschied es: Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, religiös oder weltanschaulich motivierte Parallelgesellschaften zu verhindern. Anders als im Heimunterricht könnten sich Kinder in der Schule nicht vor einem Dialog mit Andersdenkenden verschließen.
Wie sieht der Europäische Menschenrechtsgerichtshof das?
Genauso. In einer Entscheidung von 2006 heißt es klar: Es gibt kein Recht auf Heimunterricht. Zur Begründung schlossen sich die Straßburger Richter der Argumentation des Bundesverfassungsgerichtsan. Außerdem könnten Eltern ihre Kinder auch nach der Schule entsprechend ihrer religiösen Überzeugungen erziehen.
Sind andere europäische Länder auch so streng?
Nein. Beim Homeschooling herrscht in Europa kein Konsens, stellte der Menschenrechtsgerichtshof fest. Familie Wunderlich wollte deshalb nach Frankreich auswandern, ein anderes Elternpaar brachte seine Kinder in ein österreichisches Dorf. Auch die Schweiz ist liberaler.
Darf der Staat die Schulpflicht um jeden Preis durchsetzen?
Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, riskieren Bußgelder, Geld- oder sogar Haftstrafen. Die Polizei kann die Kinder abholen und in die Schule bringen. Den Eltern kann das Sorgerecht entzogen werden. Was angemessen ist, hängt auch vom Kindeswohl ab.
Gibt es Kritik an dieser strengen Schulpflicht?
„Es ist sogar juristisch falsch“, sagt Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf. Statt an einem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ festzuhalten, müsse man fragen, ob Kinder nicht auch anders als durch den Schulbesuch in die Gesellschaft integriert werden könnten. Etwa nachmittags im Sport- oder Musikverein.
Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft warnt dagegen davor, die Schulpflicht aufzuweichen. „Das ist eine große demokratische Errungenschaft“, sagt sie. „Häufig stecken hinter dem Wunsch nach Heimunterricht radikalreligiöse Gruppen. Es kann nicht im Interesse einer Demokratie sein, diesem Ansinnen nachzukommen.“ Außerdem müssten die Kinder vor solchen Sekten geschützt werden.
Wird Straßburg das deutsche Heimunterrichts-Verbot kippen?
„Nein, wahrscheinlich nicht“, sagt selbst Andreas Thonhauser, dessen Nicht-Regierungsorganisation die Familie Wunderlich in Straßburg vertritt. „Wir hoffen aber, dass eine Diskussion darüber in Gang kommt, ob ein komplettes Verbot noch zeitgemäß ist.“
Ein Sprecher der Kultusministerkonferenz hält eine Reform für unrealistisch. „Es sei denn, ein Urteil würde das verlangen“, sagt er. „Die Haltung ist klar. Es gibt eine Schulpflicht. Punkt.“